Prolog
 

»Nein, Mami, ich will nicht ins Bett.«

Jeden Abend dasselbe Scheißtheater, Genovefa wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte.

Sie hatte alles probiert.

»He, Kleiner«, versuchte sie es noch mal liebevoll. »Was ist denn los?«

»Ich – bin – nicht – klein!«, schrie er sie an und stampfte auf den Boden.

Eigentor, sie hatte vergessen, wie sehr er es hassen konnte, wenn sie ihn ›Kleiner‹ nannte. Dabei würde er das immer bleiben, egal wie alt er wäre. Ihr Kleiner. Ihr Baby. Der Bockfrosch. Neun Jahre alt und er hatte die Weisheit mit Löffeln gefressen.

Sie atmete tief ein und versuchte zum wiederholten Male sich zu erinnern, ob sie damals auch immer so einen Zirkus gemacht hatte, wenn es ums Schlafengehen ging.

Sie atmete tief durch. »Sorry, mein Großer. Was ist denn?«

»Ich habe Angst im Dunkeln, Mami. Ich habe Angst vor den Schatten. Was ist, wenn sie mich kriegen? Was ist, wenn ich nie wieder aufwache?«, sagte er mit Tränen in den Augen.

Es brach ihr das Herz. So groß und doch noch so klein. Sie unterdrückte den Impuls zu sagen, dass man im Dunkeln keine Schatten sehen würde.

Jetzt bloß keine Diskussion anfangen! Sie drückte ihn an sich.

»Alles ist gut, mein Schatz. Ich bin doch da und beschütze dich. Dir kann gar nichts passieren. Mama passt doch auf dich auf, mein Schatz.«

»Bleibst du noch bei mir und hältst meine Hand? Und kann die dreieckige Sonne an bleiben, bitte Mami.«

Wie könnte sie Nein sagen. Und natürlich ließ sie den Lichterbogen an.

Sie kuschelte sich zu ihm ins Bett und hielt seine Hand. Sie würde auch einschlafen. Wie schon so oft.

»Schlaf gut.«

»Du auch, Mami. Du bist die beste Mami auf der Welt. Ich lieb dich unendlich.«

»Ich lieb dich auch, Großer.«

»Auch unendlich?«, nuschelte er schon im Halbschlaf.

»Unendlich, mein Schatz.«

 

1
 

Die Sonne kitzelte ihn in der Nase, als er leicht fröstelnd aufwachte. Er hatte vergessen, die Terrassentür zu schließen, und war auf dem Sofa eingeschlafen. Immerhin nicht im Strandkorb. Er streckte sich ausgiebig und tappte zur Küche.

Kaffee.

Natürlich waren sie nicht mehr nach Schattenkliff aufgebrochen, sie saßen noch lange am See. Rose hatte geübt und Neil auf der Laute gespielt. Sie hatten alles Mögliche ausprobiert. Rose hatte Regenbögen erschaffen, ein Blumenmeer, Pfeile, die durch die Luft zischten, und auch Tiere. Ihrer Fantasie waren kaum Grenzen gesetzt und sie sahen täuschend echt aus. Neil musste die Augen schließen, und sie hatte einen Stein kopiert. Als er die Augen wieder aufmachen durfte, lagen da fünf Steine. Er konnte partout keinen Unterschied feststellen.

Er fand auf seiner selbstgebauten Holzanrichte noch eine saubere Tasse, schaltete seine alte Gaggia ein und drückte das Espressopulver in den Halter der Maschine, die alleine ihm schon sechs Jahre treue Dienste geleistet hatte. Davor hatte sie unzählige Jahre Marco und seine Gäste mit gutem starkem Kaffee versorgt hatte. Als Marco damals seinen Laden aufgab, konnte er die Gaggia und den Hängetoaster übernehmen. So blieben ihm die Erinnerungen, guter Kaffee und leckere Käsetoasts.

Damit hatte sich auch die Frage nach dem Frühstück geklärt. Er schnitt vier dünne Scheiben Tomaten mit seinem japanischen Küchenmesser und hackte ein paar Zwiebeln. Toastbrot, Cheddar, Tomaten, Zwiebeln, Salz und Pfeffer, Kräuter der Provence, noch eine Scheibe Cheddar. Die Krönung war die angefeuchtete zweite Scheibe ›Vollkorn Balance‹ obendrauf. Was für ein Hippshit! Den Trick hatte er sich vom Marco abgeguckt, dadurch wurde der Toast langsamer dunkel und der Käse konnte allmählich schmelzen.

Man bekam ja viel heutzutage. Aber nicht so geile Tramezzini, wie Marco sie damals hatte. Er drückte den Toaststapel kurz zusammen, packte ihn in den Toaster und machte sich einen doppelten Espresso. Dann setze er sich mit seinem Sandwich und dem Espresso wieder auf seine Dachterrasse.

Nach dem Frühstück schälte er sich aus seinen Klamotten und duschte ausführlich heiß und kalt, um seine verbliebenen Lebensgeister zu reaktivieren. Er hatte das Gefühl, dass er jeden einzelnen von ihnen in den kommenden Tagen brauchen würde.

Roses Adresse zu finden, war kein großes Problem. Sein Problem während der Zugfahrt war das Random Play. ›The Crystal Ship‹, die Piano Version von George Winston. Viele dachten, der Song handelte von Drogen. Neil glaubte an die Geschichte, dass Jim Morrison damit das Ende seiner Beziehung zu Mary verarbeitet hatte. Also keine Musik.

Er verstaute die Kopfhörer in seiner Jacke und schaute sich die anderen Menschen an, was ihn auch nicht aufmunterte. Alle hatten sie Smartphones und Handys in der Hand. Wie hirnlose Zombies. Natürlich auch kleine Kinder, damit sie nicht nerven. Er konnte es nicht nachvollziehen. Nur ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren saß da und las gebannt in einem Buch. ›Lord Schmetterhemd‹, er hätte ihn umarmen können. Eine knappe Stunde später war er auch schon da. Sie waren beide erstaunt gewesen, dass sie so dicht beieinander wohnten, aber das machte es nur umso leichter. Rose lebte in einer kleinen Vorstadtgemeinde mit vielen alten Villen und einzelnen Häusern. Ihr Haus war rot geklinkert, mit einer breiten Auffahrt und Kletterrosen neben dem Eingang.

Neil ging zur Tür und verharrte einen Moment, dann schüttelte er alle Bedenken und Gedanken ab und klingelte. Als der Summer ging, drückte er die Tür auf und betrat den breiten Flur. Und da war sie auch schon. Sie war genauso hübsch wie in seinem Träumen. Wieso fing sein Gehirn jetzt an, Kitschiges abzusondern? Sie saß in ihrem Rollstuhl und lächelte ihn verlegen an.

»Hallo, Neil, herzlich willkommen!«

»Schön hast du es hier. Wohnst du hier alleine?«

»Ja, warum?«

»Du erwähntest mehrmals einen Knut, ich weiß ja nicht, ob das dein Mitbewohner oder dein …«

»Er hilft mir manchmal. Er hat einen Lieferdienst«, sagte sie hastig, bevor er das Wort ›Freund‹ aussprechen konnte. Wie bescheuert war er denn bitte? Das war er also, der peinliche Moment des Schweigens, nach noch nicht mal zwei Minuten.

»Du hast nicht zufällig Bier da, oder?« Irgendwie musste er diese komische Situation beenden. »Kann auch was Stärkeres sein, aber ich hätte jetzt echt gern einen Drink.« Mann, klang das unterbelichtet. Aber es tat seine Wirkung.

»Natürlich, wie unhöflich von mir. Bier habe ich nicht, aber Wein müsste ich noch dahaben.« Sie rollte ein wenig zurück und winkte ihn ins Wohnzimmer. »Da in dem Schrank findest du alles, was du brauchst. Na ja, zumindest alles, was ich an Alkohol zu bieten habe.«

Neil schaute in den Schrank. Da standen drei Flaschen Rotwein, ein Rosé und ein Portwein. Er entschied sich für den Port und nahm zwei Gläser.

Er füllte die Gläser auf und setzte sich. »Also, wir wissen nicht, wer die anderen sind. Alles, was wir haben, sind ein paar Namen. Wir wissen nicht, warum sie mit uns auf der Liste stehen.«

»Na ja, vielleicht sind es auch alles hochbegabte Träumer, Traumgänger oder Wandler, so wie wir?«

Neil nickte und prostete ihr zu.

»Oder was für eine Art von Liste es überhaupt ist«, sagte Rose.

»Eine Todesliste schließe ich aus.«

»Wie beruhigend.«

»Nicht wahr? Verdammt, Rose, wir wissen fast nichts, und alles, was wir haben, ist eine Reihe von Namen und ein paar vollgekritzelte Seiten, die niemand lesen kann. Das ist nicht viel.«

»Wie sollen wir das hinbekommen? Ich kann es mir durchaus vorstellen, in der Traumwelt nach Schattenkliff zu reisen. Oder wohin auch immer, um zu versuchen, Informationen zu bekommen. Um Verbündete zu finden, aber hier, in der realen Welt? Sorry, da verlässt mich meine Fantasie.«

»Niemand hat behauptet, dass es einfach sei.«

»Okay, Fantasie, Emotionen, damit können wir ja zumindest teilweise umgehen, aber was Medizin angeht, ich kuriere Grippe mit schwarzem Tee und Stroh 80, und das so lange, bis ich nicht mehr erkältet bin.«

Rose verdrehte leicht die Augen. »Was denn? Das hilft. Solltest du mal probieren. Du schwitzt wirklich alles aus und du schläfst wie ein Baby.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Und was nun?«

»Wir brauchen hier Unterstützung und einen Arzt.«

»Wie kommst du auf die Idee, dass wir einen Arzt brauchen?«

»Na ja, es hat was mit Träumen zu tun, und du wurdest augenscheinlich unter Drogen gesetzt, damit du nicht mehr träumst und bei mir, ich weiß es nicht. Ich habe die meisten Drogen ja freiwillig genommen. Aber es erscheint mir sinnig. Verstehst du?«

»Na, die wachsen bestimmt nicht auf Bäumen, ich hoffe wir finden jemanden in der Nähe, das würde es zumindest einfacher machen.«

»Kann ich deinen Rechner benutzen?«

»Was willst du denn machen?«

»Nach einem Arzt kieken.«

»Kieken? Nie gehört.«

»Die Firma heißt ›Kiekma‹, kleine friesische Firma. Die Suchmaschine ist cool. Keine Werbung und Bäume pflanzen die auch noch.«

Rose beobachtete ihn. Nach zwanzig Minuten Brummen und Tippen richtete er sich auf.

»Hey, hieß nicht eine Frau auf der Liste Schmied?«

»Ja. Silvia Schmied, wieso?«

»Es gibt in einer kleinen Klinik am Stadtrand einen Arzt. Einen Monty Schmied, der sich mit so was beschäftigt. Er ist auch in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Koma und Wachkomapatienten. Die treffen sich einmal in der Woche.«

»Das kann genauso gut ein Zufall sein.«

Neil fing wieder an auf ihrem Rechner zu tippen.

»Dann wäre der Zufall verdammt groß. Hier steht, dass seine kleine Schwester vor circa achtzehn Jahren ins Wachkoma fiel und er sich seitdem mit diesem Thema befasst.«

»Wo hast du diese Information her?«

»Er hat diese Selbsthilfegruppe gegründet und das steht in seinem Infotext.«

»Und wann treffen die sich das nächste Mal?«

»Heute Abend um neunzehn Uhr.«

Neil war auf Roses Reaktion gespannt. Würde sie zögern oder ihn alleine schicken?

»Okay, dann wissen wir ja, was wir heute Abend vorhaben.«

Neil nickte. »Und dann?«

»Wie und dann?«

»Na ja, wir können ja schlecht zu ihm hin und die ganze Sache einfach so erzählen. He, haben Sie eine Schwester, die viel schläft? Wir haben von einer Liste geträumt, wo ihr Name draufsteht. Und viele andere auch. Wir vermuten, dass sie in Gefahr sind. Oder wichtig. Hilfst du uns? Rose, der Mann ist Arzt. Der könnte uns einweisen lassen. Oder er ruft die Bullen und die sperren uns dann weg. Und wie wollen wir die anderen finden? Das mit dem Arzt war Zufall. Pures Glück. Scheiße, mir platzt der Kopf, ich brauche eine Pause. Frische Luft und Nikotin. Aber ich bringe was zu trinken mit, okay?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab und ging. Das war unhöflich, aber er hatte diesen Drang, sich zu bewegen. in paar Schritte weiter drehte er sich eine Zigarette, rauchte und versuchte nachzudenken.

Wie sollten sie den Arzt überzeugen? Selbst wenn Silvia seine Schwester wäre? Wie sollten sie die anderen finden? Und selbst wenn sie das schafften, was dann?

Er trat die Kippe aus und ging zum nahegelegenen Supermarkt. Portwein, Bier und Schokolade landeten im Einkaufskorb.

Mochte Rose Schokolade? Es wäre ihm doof vorgekommen, nur mit Alkohol wiederzukommen. Dann packte er noch Chips und ein paar Äpfel ein. Von wegen ›Steaks und Bier und Zigaretten‹.

In den Grenzlanden hätte er kein Problem, einfach draufloszustürmen, es war eine andere Welt mit anderen Regeln. Mit weniger Regeln. Aber hier?

Er hatte nicht mal den Hauch einer Idee, wie sie so was anstellen könnten.

Dann fiel es ihm ein und er stiefelte mit neuem Elan zurück zu Rose.

Als er zurückkam, war Rose immer noch am Brüten.

»Wie sollen wir denn alle hier in unserer Welt finden und zusammenbringen? Das Einzige, was mir eingefallen ist, dass ich ihn vielleicht im Schlaf erreichen kann, wenn ich ihn kenne, also Kontakt hergestellt habe, weißt du?«

»Hhhmhm, das werden wir rausfinden, vielleicht geht es ja auch umgekehrt, wenn du jemandem im Traum kennst oder berührst, dass du dann hier auch eine Verbindung bekommst. Aber das bekommen wir schon hin. Und was die anderen möglichen Probleme und Hindernisse angeht, ich glaube, ich kenne da jemanden.«

»Wie, du kennst da wen?«, fragte Rose.

»Wir reden hier immerhin wahrscheinlich von Datendiebstahl und Verstoß gegen den Datenschutz und bestimmt noch anderen mehr oder minder heftigen Vergehen und oder sogar Straftaten. Wir wissen doch gar nicht, was uns erwartet. Woher und warum kennst du wen, der uns da helfen könnte?«

Neil grinste sie an. Ob er sie fragen sollte, ob sie ein Handtuch hätte? Aber das hätte sie wahrscheinlich nur noch mehr verwirrt.

»Keine Panik. Es ist ja nicht so, dass ich schon irgendwelche Erfahrungen mit Straftaten auf diesem Sektor hätte, Rose.«

Er hob die Schultern entschuldigend an. »Ich kenne DJ schon ein paar Jahre, ich lief ihm damals im ›Blessed Needle‹ über den Weg. Wir sind ins Quatschen gekommen, vom Hundertsten ins Tausendste, von Musik zu Filmen, Serien und Spielen. Und hast du nicht gesehen, wurden wir doch von Johann gebeten, mal langsam zu Potte zu kommen, da er gern Feierabend machen wollte. Na ja, da wir nichts Besseres zu tun hatten, sind wir erst mal zwei Straßen weiter in die nächste Kneipe und haben weitergesabbelt. Und je länger wir redeten, umso mehr Gemeinsamkeiten kamen zum Vorschein. Und seit damals tauschen wir halt geile Livekonzerte und Filme und so. Und er hat manchmal ziemlich gutes Dope.«

»Und wie kommst du darauf, dass jemand, der einen ähnlichen Musikgeschmack wie du und tolle Drogen hat, uns bei dem, was wir vorhaben, helfen kann? Das ist doch ein ziemlich anderes Kaliber, oder irre ich mich da?«

»Na ja, ich kenne ihn schon recht lange. Und wenn man das, was man weiß und erlebt hat, mit seinen Erzählungen und flüchtigen Couchbekanntschaften bei ihm zusammenschmeißt, ist er wahrscheinlich die beste Anlaufstelle, die wir haben, es sei denn, du zauberst noch etwas aus dem Hut.«

Rose dachte für eine Sekunde an Knut, aber was wusste sie von ihm? Er mochte Eis und konnte Autofahren. Nicht sehr hilfreich.

»Flüchtige Couchbekanntschaften? Jetzt versteh ich gar nichts mehr.«

»Es gab da solche Nach-Feierabendtreffen im ›Blessed Needle‹, Johanns Laden, wo wir dann abhingen. Ich wurde irgendwann Mitglied in dem elitären Feierabendclub. Ich hatte DJ ab und an auch schon vorher im Laden gesehen. Lustig, wenn ich mich recht entsinne, war das aber wirklich immer nur kurz vor Feierabend. Na ja, eines Abends meinte Johann dann, dass ich gern bleiben dürfte. Und natürlich sagte ich nicht Nein, ich wollte ja auch endlich mal wissen, was nach Feierabend in dem Laden passierte.«

»War das so legendär?«

»Legendär bestimmt nicht, zumindest nicht im normalen Sinne. Aber es sprach sich in der Szene rum und niemand wusste, wer dabei war und was da passierte.«

»Klingt wie aus diesem Film ›Fight Club‹.«

»Ja, ein bisschen, aber gekämpft wurde da nicht.«

»Und was ist dann passiert?«

»Niemand redet über den Fight Club.«

Rose verdrehte gespielt die Augen.

»Komm schon, du weißt genau, was ich meine.«

»An meinem ersten Mal bei der Feierabend-Bande? Hinter den Geschäftsräumen ist noch ein ziemlich großes Wohnzimmer, vollgestellt mit Büchern und Plattenregalen, vielen alten Sofas, einem Beamer und einer kleinen Bar.«

»Und?«, fragte Rose neugierig.

»Ich öffnete die Tür und musste durch diese mir entgegenwabernde Dope-Wand. Das vorher dumpfe Pochen der Bässe konnte ich dann als ›Flick of her Wrist‹ von Motorpsycho einordnen. Ich betrat also den Raum und die schwere marihuanaschwangere Luft wurde von den psychedelischen Klängen und fickenden Gitarren durchdrungen.«

Rose runzelte über diesen Ausdruck die Stirn.

»Johann drückte mich in eine Couch und gab mir ein Bier.«

»Und dann?«

»Dann kam ein Joint von links, als ich den weiterreichte, kam schon der nächste von rechts und die Zeit wurde getragen auf den Schwingen der Musik und zerfaserte um uns rum. Aber das war auch total okay. Die Playlist war einfach der Hammer.«

»Ich kenne Motorpsycho nicht wirklich.«

Neils Blick wurde glasig, als er sich zu dem Moment zurückversetzte.

»Es war fast magisch, echt schwer zu beschreiben, auch wenn keine Drogen im Spiel gewesen wären. Da waren Kraftwerk, Radiohead, Pearl Jam, die Smashing Pumpkins, The Police, im Original, in Cover-Versionen. Und es hat immer gepasst. Eine Art Sofa-Festival. Er hatte auch einen uralten Projektor mit drei Linsen, der Fotos, Youtube-Mitschnitte und Videos an eine Wand warf. Und dann dieser ganze Kunstnebel, na ja, es waren wohl eher Marihuana-Rauchwolken, aber beeindruckend war es trotzdem. Wenn du jemanden Influencer nennen möchtest, dann Johann. Nach diesem Abend war es eigentlich egal, was ich vorhatte, egal wie wichtig es war, die Feierabend-Sessions hatten Vorrang. Es ist ja nicht so, dass ich deswegen alles abgesagt hätte. Ich bin dann nur später gekommen, wenn ich noch laufen konnte. Aber ich war damals der Meinung, dass die Party nicht anfängt, bevor ich da auftauche. Rock ’n’ Roll halt.«

»Klingt so, als ob du ziemlich oft stoned warst.«

»Oh ja, das kannst du laut sagen.«

»Hattest du nicht gesagt, dass Johann dir geholfen hat, wieder klarzukommen?«

»Das hat er auch.«

»Seltsame Methode.«

»Das mag sein, aber es hat gut geklappt.«

»Wenn du meinst. Ich wünschte, unsere Probleme würden sich nur auf übermäßigen, immer noch illegalen Cannabis- und Alkoholkonsum beschränken.«

»Ja, da hätte ich auch kein Problem mit«, stimmte Neil zu, dem der kritische Unterton von Rose total entging.

»Ich weiß nicht, ob ich es gut finde, Hilfe bei einem Kriminellen zu suchen.«

»Wer hat gesagt, dass DJ ein Krimineller ist?«

»Du. Zumindest indirekt.«

»Ich weiß es nicht, allerhöchstens ein Kleinkrimineller. Aber selbst wenn. Rose, ich kenne niemanden sonst, an den ich mich wenden könnte, in so einer Situation. Und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was ich über DJ weiß, ist er genau der Richtige. Aber wenn du einen besseren Kandidaten kennst oder schon eine Lösung parat hast, immer her damit.« Sofort bereute er, was er gesagt hatte. Es kam wesentlich schroffer rüber, als er es wollte.

Rose war ob der Heftigkeit seiner Worte etwas zusammengezuckt.

»Nein ich wüsste da niemanden, Neil, und ich habe auch keine bessere Idee. Aber ich habe generell Probleme mit neuen Situationen und vor allem mit neuen Menschen, die ich nicht kenne. Und wenn ich bedenke, dass du mir bestimmt nicht alles erzählt hast, was du über ihn weißt, ja sogar selbst sagst, dass du bestimmt nicht alles weißt, da ist mir halt ein bisschen mulmig zumute. Kannst du das wenigstens ein bisschen nachvollziehen?«

»Okay. Wir bekommen das schon irgendwie hin. Zusammen. Du und ich. Okay?«

Rose nickte, es wirkte zögerlich auf ihn.

Dann rief er DJ an und bat ihn um Hilfe. Er erzählte ihm von einer Notlage und fragte, ob er jemanden kennen würde, der bestimmte Informationen beschaffen könnte. Natürlich kannte er wen. Er fotografierte die von Rose angefertigte Liste mit den Namen sorgfältig mit seinem Handy und schickte sie gepackt und passwortgeschützt als E-Mail an DJ.

Rose war in der Zwischenzeit verschwunden, um sich frisch zu machen. Sie hatten besprochen, dass es am einfachsten und besten für Rose wäre, mit Knut zu dem Treffen mit diesem Arzt zu fahren.

Er war gespannt auf Knut. Er hatte viel von ihm gehört, es schien ihm, als ob er eine wichtige Bezugsperson in Roses bisherigem Leben war.

  

 

2

Irgendwann kapierte Nicos, dass sein Telefon klingelte. Er setzte sich ruckartig auf und ließ sich gleich wieder ins Bett fallen. Sein Kopf wollte explodieren. Und dann noch dieser nervige Klingelton. Er tastete vorsichtig nach dem Quälgeist. Nur nicht zu schnell bewegen. »Ja«, sagte er ziemlich barsch, nicht darauf bedacht, freundlich zu klingen, sollte ein Kunde am Telefon sein. Die sollten sich gehackt legen, ihn so früh zu stören.

»Ich freue mich auch, dich zu hören. Wilde Nacht gehabt? Ich habe dir eine Mail geschickt. Sieh zu, was du rausfinden kannst. Grab schnell und tief. Ich sage sogar bitte.«

»Leck mich doch«, grunzte er und legte auf.

Was wollte DJ denn so dringend von ihm? Zu einer so unchristlichen Stunde? Um zwölf Uhr mittags?

Das heftige Hämmern in seinem Kopf war definitiv nicht feierlich. Eher ein Zeichen dafür, dass er zu viel gefeiert hatte. Ein deutliches Symptom für zu viel Wodka. Er setzte sich ganz vorsichtig auf und wühlte in der Nachttischschublade.

Er brauchte weder Kondome, schon gar keine benutzten, noch den Schlagring. Endlich zog er triumphierend einen Riegel Kopfschmerztabletten hervor. Er nahm die Dose Bier vom Nachttisch und schüttelte sie versuchsweise. Das reichte noch. Er spülte drei Tabletten mit dem abgestandenen Bier runter und bereute gleich die zu hektische Bewegung. Der Geschmack in seinem Mund war sowieso überaus übel, aber darauf kam es auch nicht mehr an. Jahrelanges Training und reine Körperbeherrschung verhinderte, dass er sich spontan übergab.

Er arbeitete sich in die Küche vor und setzte extrastarken Kaffee auf. Dann wartete er. Das konnte er. Er war ja Detektiv. Warten war sein Geschäft. Warum hatte er sich auf die Feier eingelassen? Aber Oleg wäre richtig sauer gewesen, wenn er nicht zu dieser Familienfeier gekommen wäre. Und die Feier war ausgelassen gewesen und hatte Spaß gemacht. Das hier machte keinen Spaß. Mit einem blubbernden Geräusch vermeldete die Kaffeemaschine, dass sie jetzt fertig durchgelaufen war. Er griff sich die Tasse von gestern und trank den Kaffee so heiß, wie es nur ging, mit geschlossenen Augen.

Nicos, der Teufelskerl. Marlowe wäre stolz auf ihn gewesen.

Eigentlich wollte er heute seine Spesen abrechnen.

Drei Tassen später ging er ins Bad und duschte zwei Minuten eiskalt. Dann heiß dann wieder kalt. Schon besser. Er kochte sich vier Eier und trank noch eine ganze Kanne starken schwarzen Kaffee dazu.

Mit diesem Anruf von DJ hatte er nicht gerechnet. Zumindest nicht mit so einem Anliegen. Aber egal, Gefallen war Gefallen.

Da stellte man keine Fragen. Das war das Schöne an Gefälligkeiten.

Aber auch das Nervige. Sie konnten eingefordert werden, wann immer man sie brauchte.

Was DJ von ihm wollte, klang nicht sehr kompliziert, und auch nicht schwierig und gerade das machte ihn misstrauisch.

Bei so einer Suche war es eigentlich egal, wo und bei wem er anfing. Also frei nach dem Motto jeder ist seines Glückes Schmied, fing er bei Silvia Schmied an. Die Metasuchmaschine spuckte über sechs Seiten Treffer aus. Aber es war auch ein beschissener Allerweltsname. Scheiß Idee! Nicht jeder Schmied hat Glück.

So wird das nichts, vielleicht gab es ja auch Gemeinsamkeiten mit den anderen Namen auf der Liste. Also weiter im Text. Am besten wäre es, wenn er Mandy mit ins Boot nähme. Das würde ihm wahrscheinlich wieder ein riesiges Loch in die Tasche reißen, aber DJ wollte die Informationen ja schnell haben. Er griff wieder zum Telefon und wählte die Nummer.

»›Bits n PCs‹, hier ist Mandy, was kann ich für Sie tun?«

»Moin Mandy, hier ist Nicos, wie geht es dir?«

»Gut so weit, wenn nicht andauernd Menschen anrufen würden, die seltsame Sachen bis gestern erledigt haben wollen und das Ganze für lau.«

»Hast du so viel zu tun?«

»Nicht wirklich, willst du das ändern?«

»Aber sicher doch.«

»Okay, Schätzelein, was hast du, was brauchst du und wie schnell?«

»Nur Namen, keine Informationen. Keine Fotos. Nada. Ich brauche alles, was du bekommst. Grabe tief und grabe schnell. Je schneller, desto besser.«

»Und desto teurer.«

»Wieso? Du sagtest, es sei nichts los.«

»Es gibt immer was zu tun und ab und an verirrt sich ja auch mal ein Rentner hier rein, der das Internet gelöscht hat.«

»Verstehe.«

Er hätte es auch selbst erledigen können. Mandy hätte ihm alle nötigen Zugänge gestellt.

Aber sie war nicht nur eine hervorragende Datenkrake, sie war auch eine passionierte Hackerin und gut vernetzt. So konnte sie zumindest die Basics wesentlich schneller abfragen. Und bei der Menge an Namen und der Dringlichkeit ergab es Sinn. Um das Bezahlen von Mandy machte er sich keine Sorgen. Er würde es einfach der blasierten Zicke in Rechnung stellen.

»Die Kontakte stelle ich dann selbst her, aber gerade bei Silvia Schmied, würde mich die Suche Tage in Anspruch nehmen.«

»Du meinst Wochen?«

»Wenn du es sagst.«

»Wann geht es los?«

»Ich schicke dir gerade die Liste. Wenn du noch Fragen hast, du hast meine Nummer.«

»Alles klar, Nicos. Ich hau in die Tasten.«

»Ich weiß. Und danke.«

»Da nicht für.«

Immerhin sorgte das für Abwechslung. Wenn er weiterhin nur diesen Kerl beschatten musste, würde er durchdrehen. Seine Frau zahlte zwar nicht schlecht, um nicht zu sagen, fantastisch, aber ihre Art war zum Fürchten. Arrogant und hochnäsig.

»Ich will Sie engagieren, damit Sie alles über meinen Mann rausfinden.«

»Betrügt er Sie?«

»Das weiß ich nicht.«

»Haben Sie denn eine Ahnung oder …«

»Ich bin hergekommen, damit Sie alles herausfinden über ihn, haben Sie verstanden? Es geht hier nicht um mich, sondern um ihn. Je mehr Sie herausfinden, desto besser.«

Ihm kam die Galle hoch. Diese arrogante Vettel! Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sie sagte: »Es ist mir egal, was es kostet.« Daraufhin wartete er erst einmal ab.

Er hätte sie immer noch rausschmeißen können.

Nach genug Geld sah sie ja aus.

»Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir? Sie haben doch bestimmt das Geld, sich einen Spitzendetektiv zu leisten. Wenn nicht gleich die Pinkertons?«

»Herr Sfyrí«, hatte sie ziemlich pikiert gesagt, »Sie wirken auf mich wie ein Mann, der für Geld alles tut und dessen moralischer Kodex nicht so hochgeschraubt ist wie der von namhafteren Institutionen.«

Er ballte seine Fäuste und setzte zu einer heftigen Erwiderung an.

»Ich nehme an, dass ich Ihre volle Inbrunst mit zehntausend Euro im Monat wohl zu erkaufen vermag, oder?«

Zehntausend im Monat? Bei so einer Summe hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Auch wenn sie hochgestochenen Stuss palaverte. Bei der Frage nach Spesen sagte sie nur, er solle ihr Quittungen mitbringen.

»Und wenn ich wen bestechen muss?«

»Dann teilen Sie mir das mit und Sie bekommen Ihr verdammtes Geld«, erwiderte sie genervt. »Ich denke, dass Sie mit fünftausend Euro Vorschuss erst einmal auskommen, ja?«

Wie gern hätte er sie für ihre selbstgefällig affektierte Art gepackt und rausgeworfen. Aber das Geld konnte er wirklich extrem gut brauchen. Er nahm das fette Geldbündel, das sie achtlos auf den Tisch geknallt hatte, und steckte es in seine Jacke.

»Und wie erreiche ich Sie?«

»Hier ist meine Karte. Ich erwarte jeden Abend bis elf Uhr eine Fortschrittsmeldung. Auf diesem USB-Stick sind alle seine Termine, von denen ich weiß. Seine Kontakte, seine und unsere Bankverbindungsdaten, Personalausweis, Sozialversicher… ach, schauen Sie auf den Stick. Da sind auch detaillierte Anweisungen, was ich alles für das Geld erwarte. Und wenn Sie noch was brauchen, teilen Sie es mir mit. Ich muss jetzt zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung.«

Wie sie das Wort ›Wohltätigkeitsveranstaltung‹ alleine schon sagte. Betont langsam, damit er es auch verstand.

Die blasierte Kuh hatte ihn einfach stehen lassen und war abgerauscht.

Ohne Vertrag, ohne Quittung. Er hatte eine großzügige Spende von fünfzehntausend Euro bekommen.

Für nichts.

Die Vorstellung war verlockend gewesen. Wie schön, dass er jetzt etwas machen konnte, das ihm mehr lag. Einem Freund helfen.

Während sein Rechner damit beschäftigt war, die nötigen Suchroutinen auszuführen, stieß er sich mit dem Fuß vom Schreibtisch ab und schlitterte auf seinem Stuhl in die offene improvisierte Küchenzeile. Er goss den Rest Kaffee in den Becher. Sein Blick fiel auf die leere Kaffeedose. Er machte eine kurze Bestandsaufnahme, was er sonst noch brauchen könnte, schnappte sich seine Jacke vom Stuhl und verließ sein Büro. Drei Straßen weiter war ein Kiosk, der immer geöffnet hatte. Der hatte alles, was er brauchte. Und da er fast direkt neben seinem Stamm-Asia-Imbiss ›Thai Riffic‹ lag, konnte er auf dem Rückweg gleich etwas zum Essen mitnehmen.

3
 

Müde blinzelte Monty Schmied in die untergehende Sonne, die noch zaghaft ein paar Strahlen über die Hauswände warf.

Warum kam dieser Bus grundsätzlich nie pünktlich? Zumindest regnete es nicht. Er wollte nur noch nach Hause, duschen und etwas essen. Schlafen musste er wohl auch mal wieder. Der Gedanke missfiel ihm. Es gab noch so viel zu tun.

Er hatte einfach zu wenig Zeit. Wenn der Bus wenigstens endlich mal käme!

Na endlich! Im öffentlichen Nahverkehrsschneckentempo bog der Bus um die Ecke. Doppelschichten waren ja schon anstrengend genug. Aber dann hatte er gleich im Anschluss noch spontan die Rufbereitschaft im Nachtdienst gewonnen. Es störte ihn trotzdem wenig. Er hatte niemanden, der zu Hause auf ihn wartete.

So konnte er noch mal bei Silvia vorbeischauen und ihr etwas erzählen oder vorlesen, zumindest bei ihr sein. Er wollte sie sehen. So oft es ihm nur möglich war. Er erinnerte sich an das Schmunzeln von ihm und ihrer Mutter, als sie nicht aufwachen wollte. Wie tief sie schlief oder zumindest so tat. Er erinnerte sich an die zunehmende Panik und die Verzweiflung, an die bittere Gewissheit durch die Ärzte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann war Silvia der einzige feste Bestandteil seines Lebens. Der Motor, der ihn antrieb. Der Rest passierte nebenbei und war nicht so wichtig.

Aber da gab es auch nicht mehr viel.

Seine Freunde hatten ihn irgendwann nicht mehr angerufen. Er hätte aber auch nicht anders reagiert, wenn er gewusst hätte, dass es der letzte Anruf gewesen wäre. Er hatte keine Zeit. Er hatte einen Knochenjob als Arzt im Krankenhaus und half zusätzlich zu seiner Schlaf- und Traumdiagnostik und der Forschung auch noch auf der Kinderstation. Vor allem den Kindern, die auch im Wachkoma lagen, wollte er so weit wie möglich beistehen. Und den Angehörigen in der Selbsthilfegruppe.

Das letzte bisschen seiner Zeit verbrachte er mit Silia. Ein Kollege hatte ihn mal gefragt, wo denn dieser seltsame Name herkäme, er wusste nicht einmal mehr, welcher Kollege das gewesen war und ob er noch immer in der Klinik arbeitete.

Er lächelte, als er daran zurückdachte, wie Silvia damals gerade sprechen gelernt hatte, aber mit dem V in ihrem Namen nicht zurechtkam und immer nur sagte: ›Ich heiße Silia.‹ Dabei war es dann geblieben, es war der einzige Name, auf den sie reagierte und hörte. Sie war schon immer stur gewesen.

Im Bus ließ er den ganzen Tag noch mal Revue passieren. Erst der Terror mit dem Besoffenen in der Notaufnahme, dann ein weinendes Mädchen mit einem Unterarmgips auf der Kinderstation, das panische Angst hatte, dass seine Eltern es nicht mehr abholen würden, weil sie gesagt hatten, sie kämen um halb eins.

»Jetzt ist es schon ein Uhr. Meine Eltern sind immer noch nicht da. Ich kann die Uhr lesen, sie haben sich bestimmt ein neues Kind geholt, ein gesundes.«

Es brach ihm das Herz, aber als er gerade mit ihr zum Süßwarenautomaten in der Cafeteria aufbrechen wollte, kamen sie dann. Freudestrahlend stürmte sie ihnen entgegen und er machte weiter.

Und dann, zum krönenden Abschluss des Tages sozusagen, dieser merkwürdige junge Typ mit seiner Freundin im Rollstuhl, die viele Fragen gestellt, aber nur vage Informationen preisgegeben hatte. Neue Mitglieder in der Selbsthilfe-Gruppe. Eigentlich ganz nett. Die Frau hatte zum Abschied seine Hand ergriffen und ihm noch einmal gedankt. Seine Rede zum Abschluss der Veranstaltung hätte sie sehr bewegt. Wie er dargestellt hatte, was er alles tun würde, um seine Schwester zu retten, das sei sehr eindrücklich gewesen.


Es war Neil klar gewesen, dass DJ das nicht einfach kommentarlos machen würde. Dazu war sein Anliegen zu ungewöhnlich gewesen, jedenfalls angesichts dessen, was er sonst so mit DJ besprach. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass seine Reaktion so schnell kommen würde. Er hatte sich gerade von Rose verabschiedet, als sein Smartphone vibrierte. Eine Textmitteilung: KNB ASAP.

›Keine Namen Bar‹ so schnell wie möglich.

Eigentlich wollte er nur noch nach Hause und schlafen. Wobei man von Schlaf ja auch nicht reden konnte, gewissermaßen. Sie hatten viel vor in der kommenden Nacht.

Er schrieb Rose eine kurze Nachricht, dass es bei ihm später werden würde. Er hätte auch noch mal klingeln können. Aber ASAP war ASAP. Und so musste er sich nicht lang und breit erklären.

Als er dann nach einer Stunde aus dem Zug stieg, machte er sich durch den Nieselregen auf zur ›Keine Namen Bar‹.

4
 

Sie hatten sich so abgesprochen, dass sie erst Neil abholen und dann mit ihm im Schlepptau versuchen würde, den träumenden Mo zu finden. Rose hätte es toll gefunden, wenn sie auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, wie sie das genau anstellen sollte. Aber sie hatten ja fast die ganze Nacht Zeit und die verlief in den Traumlanden anders als in der wachen Welt.

Die wache Welt, das klang besser als die Realität, weil die Grenzlande auch real waren. Von Tag zu Tag fieberte sie mehr dem Schlafengehen entgegen, praktisch schon gleich nach dem Aufstehen. Die bisherigen Angelegenheiten des täglichen Lebens erschienen ihr so fade und langweilig. Farblos.

Im Gegensatz zu dem Himmel über dem See am Gasthaus, der ein leichtes Rot annahm. Der Abend zog herauf. Die Schatten wurden länger. Rose fröstelte bei der Vorstellung und ging ein paar Schritte weiter, wieder in die Sonne. Weg vom Schatten. Sie konnte sich immer noch kein Bild davon machen, was es mit den Schatten auf sich hatte, aber alleine die Vorstellung war ihr unbehaglich. Sie schalt sich eine Närrin.

Wo blieb Neil bloß?

Sie war verlockt, ins Gasthaus zu gehen und einen Tee zu trinken oder mit Nika und dem Wirt Vrigga zu reden. Vielleicht war Nuan Diandian wieder da, der Mondhase. Er arbeitete als Bedienung im ›Windlied‹. Seine Gefährtin Bai sah sie selten, sie führte die Küche.

Als Rose an dem Baum am Wegesrand zum ›Windlied‹ ankam, war Neil immer noch nicht da. Wäre ja zu schön gewesen.

Sie rollte ihre Schultern und lehnte sich dann an den Baum. Tiefe gleichmäßige Atemzüge machen und an Monty denken.

Mo Schmied. Vielleicht war es ganz gut, dass Neil noch nicht da war. So konnte sie sich in Ruhe Gedanken darüber machen, wie sie Mo finden sollte.

Mit der Karte war es ja einfach. Sie dachte an einen Namen und ein Punkt tauchte da auf, wo die Person in den Grenzlanden war. Sie wusste nicht, worauf sie achten musste, hatte sie etwas bei den anderen Namen empfunden? Ein Kribbeln oder eine Gänsehaut?

Sie konnte sich nicht erinnern.

Sicherheitshalber holte sie die Karte hervor und schaute nach. Da war nichts. Sie packte sie wieder sorgfältig weg.

Atmen.

Einatmen.

Ausatmen.

Geh in dich! Konzentriere dich! Finde Monty!

Mo Schmied.

Monty, wo bist du.

Nichts. Vielleicht arbeitete er noch?

Ihre Gedanken schweiften in eine ganz andere Richtung. Sie atmete tief ein und ließ die Luft langsam entweichen. Sie dachte an Knuts hellblonden Haare und diese blassblauen Augen. Ihr wurde ganz anders, fast war es so, als ob sie ihn spüren könnte. Albernes Mädchen!, schalt sie sich. Oder war das etwa genau das, was sie wollte?

Knut schlief bestimmt schon. Sie wusste, dass er jeden Morgen auf dem Markt einkaufte und deshalb früh schlafen ging. Vielleicht wäre es bei ihm leichter?

Der Gedanke, dass sie einen Weg zu ihm finden wollte, setzte sich in ihrem Kopf fest. Die Luft vor ihr fing an zu flimmern. Es sah wie ein Mahlstrom aus, der sich direkt vor ihr auftat. Was würde passieren, wenn sie durchtrat? Durch Herumstehen und Nachdenken würde sie es nicht rausfinden. Kurzentschlossen machte sie einen Schritt in den Wirbel und hoffte inständig, dass dieses Tor oder Portal, oder was es war, offen blieb.

Es fühlte sich im ersten Moment ein wenig an wie Achterbahnfahren. Um sie herum verschwamm alles. Was jetzt?

Sie ging einfach los. Sie sah die Wiese aus den Augenwinkeln mit jedem Schritt in weitere Ferne rücken, für einen Schritt in diesem Tunnel machte sie wohl Hunderte in den Grenzlanden, die Landschaft raste um sie herum.

Ihr wurde schwindelig, sobald sie den Kopf hob.

Konzentrier dich! Einatmen, Schritt, ausatmen, Schritt! Einen Fuß vor den anderen und nur nicht aufblicken. Alles drehte sich immer schneller und rotierte um sie herum, sodass sie nichts mehr erkennen konnte. Ein Wirbel aus Licht und Schatten. Endlich stolperte sie aus der Tunnelblase heraus. Sie hatte es geschafft. Hinter ihr drehte sich ein kaleidoskopisches Farbspiel.

Sie stand an einem weißen Sandstrand mit Palmen, eine leichte Brise wehte und vor ihr lag ein endloses blaues Meer, dessen Wellen sanft an den Strand plätscherten. Wo war sie hier? Sie blickte sich um. Überall nur Meer, Sand, Palmen und Kokosnüsse. Direkt vor ihr tauchte Knut aus den Wellen auf. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, das Wasser lief seinen muskulösen Körper hinab. Das war ja wie in einer Rasierwasserwerbung. Er schüttelte sich und die Wassertropfen flogen umher und glitzerten in der Sonne.

Dann sah er sie an.

Erstaunen im Blick. In diesen blassblauen Augen. Ihr Herz raste. Oh mein Gott, er sieht mich, schoss es ihr durch den Kopf. Panisch drehte Rose sich um, sprang wieder in das Portal hinein und dachte an die Wiese vorm ›Windlied‹. Hinter ihr verblasste der Strand in einem Wirbel.

Ihr Herz raste immer noch, als sie wieder auf die Wiese stolperte und das Portal sich hinter ihr auflöste. Er hatte sie gesehen. Er hatte sie angesehen.

Durchatmen. Dann durchfuhr es sie.

Sie hatte es geschafft. Sie hatte es wirklich geschafft, ein Tor zu einem anderen Träumer zu öffnen. Sie tanzte lachend um den Baum herum.

Es war wirklich gut, dass Neil noch nicht da war.

Lass dich nicht ablenken, Mädchen, konzentriere dich. Jetzt zu Mo.

Einatmen.

Mo.

Ausatmen.

Schmied.

Es fiel ihr schwer, sich zu fokussieren. Ständig verlor sie den Faden. Ihr schossen zu viele Dinge durch den Kopf. Knut. Ihn hatte sie gleich gefunden, ohne dass sie sich besonders anstrengen musste, hatte sich das Portal direkt zu ihm geöffnet. Warum funktionierte es nicht bei Mo? Wie gern hätte sie jemanden gehabt, der ihr half. Der ihr zeigte, wie es einfacher ging. Aber Rapy war hinter dem Mond oder sonst wo, und Schattenschwinge konnte ihr auch nicht helfen. Zumindest nicht hierbei.

Sie atmete weiter tief ein und aus und verdrängte alles aus ihrem Geist, sie leerte ihren Kopf wie ein Glas Wasser, das man langsam ausschüttete. Alles raus. Also noch mal.

Mo Schmied.

Erst als er auf seine Schwester zu sprechen kam, wurde sein Vortrag lebendiger und seine Augen versprühten ein wildes Funkeln. Das war kein hohles Gerede gewesen, er war wirklich bereit, alles für sie zu tun. Je länger sie an ihn dachte, desto deutlicher sah sie ihn im Geiste vor sich. Vielleicht hatte es nur so lange gedauert, weil er noch nicht geschlafen hatte. Oder weil Knut ihr vertrauter war?

Sie dachte an Türen und Öffnungen, an Märchen wie ›Ali Baba‹, oder ›Alice im Wunderland‹. Aber irgendwie war es anders.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als vom Weg ein zotiges Lied über Rum und die See ertönte.

Wurde ja auch Zeit, dass er kam.

Auch wenn sie den halben Tag miteinander verbracht hatten und sich erst vor zwei Stunden getrennt hatten, freute sie sich, Neil wiederzusehen. Er war aufgeweckt und witzig, wenn er mal aufgetaut war. Sie hoffte bloß, dass er seinen Alkoholkonsum wirklich im Griff hatte, wie er behauptete.

Heute augenscheinlich nicht, wie sie nach der kurzen Begrüßung feststellte. Na toll, erst ließ er sie eine gefühlte Ewigkeit warten und dann kam er auch noch angesoffen an.

Aber war er wirklich betrunken? Konnte man in der Traumwelt betrunken sein, wenn man in der realen Welt getrunken hatte? Immerhin stank er nicht nach Schnaps und kaltem Rauch. Er war sogar ausgesprochen fröhlich und aufgekratzt.

Sie schluckte ihren Unmut runter.

»Und? Was kam rum bei deinem ach so wichtigen Treffen, das nicht warten konnte? Außer jeder Menge Alkohol?«

Er sah sie an und grinste schief. Man konnte sich schlecht mit DJ treffen, ohne etwas zu trinken. Er konnte es zumindest nicht. Und vor allem nicht da, in der ›Keine Namen Bar‹. Dort gab es die besten Mexikaner der Stadt.

Er merkte sehr schnell, dass Rose keinerlei Interesse an kulinarischen Spezialitäten hatte. Zumindest nicht dieser Art. Er überlegte, was sie wohl mochte.

Hatte sie nicht von Eis erzählt? Mexikaner-Eis? Scharfes Tomaten-Eis mit Alkohol. Das war eine geniale Erfindung.

Er schüttelte sich, um den Kopf klar zu bekommen.

Er war ziemlich breit gewesen, als er zu Hause ankam. Jetzt war er nicht mehr wirklich betrunken. Schade eigentlich. Aber er war immer noch verdammt gut drauf.

»Er wollte wissen, worum es geht.«

Sie hatten jetzt die Unterstützung von DJ und wenn das mit dem Arzt klappen sollte, dann waren sie schon vier, immerhin.

»Und was hast du ihm erzählt?«

»Na, was wohl, alles.«

Was hatte sie denn erwartet?

»Wie, alles? Du meinst alles? Von den Traumlanden und so?«

»Hab ich doch gesagt, oder?«

Hatte sie vielleicht getrunken?

»Und er hat dir geglaubt, einfach so?«

Neil nickte.

»Na ja, er hat mich sehr lange schweigend angesehen. Er kann echt fies gucken, als ob er in dein tiefstes Inneres schauen könne. Dann hat er sich eine Zigarette gedreht und der Kellnerin ein Zeichen gegeben. Die kam dann mit vier großen Blonden und einem Meter Mexikaner.«

»Was haben vier Frauen und ein kleiner Mexikaner damit zu tun?«

Neil seufzte. Keine Trinkkultur.

»Vier große Blonde, also Pils, Pilsbier. Und Mexikaner ist ein Shot, ein Kurzer. Es passen acht bis zehn Gläser auf einen Meter. Mexikaner wird mit scharfem Tomatensaft, Wodka oder Tequila …«

»Das interessiert mich gerade gar nicht, erzähl weiter«, unterbrach sie ihn etwas genervt.

»Okay, okay. Er schaute mich also die ganze Zeit so inquisitorisch an, dann zündete er die Zigarette an und sagte, dass er jeden anderen ausgelacht und dann vermöbelt hätte, oder umgekehrt.«

»Aber dich nicht?«

»Aber mich nicht.«

»Und dann?«

»Ich habe ihm dann gesagt, dass er der Einzige wäre, den ich kenne, der sich so eine abgefahrene Geschichte überhaupt anhören würde. Der Einzige, dem ich genügend vertrauen würde, um so was zu erzählen. Und dass ich es ihm nicht verübelt hätte, wenn er mich verkloppt hätte, da ich die Geschichte ja selbst immer noch total abgefahren finde.«

Rose schaute ihn fragend an.

»Und was ist dann passiert?«

»Wir sprachen das Wiipah und haben angestoßen. Das war’s.«

»Das Wiipah? Und dann?«

»Unser Trinkspruch für Mexikaner. Dann haben wir getrunken.«

»Wie, das war’s? Das kann doch nicht alles gewesen sein?«

Rose bemerkte, dass sie lauter geworden war.

»Sitzt da und säufst mit deinem Kumpel, nachdem du ihm eine Geschichte erzählt hast, die er dir sowieso nicht glaubt. Danach hätte ich an seiner Stelle wahrscheinlich auch das Trinken angefangen, aus Mitleid. Also war alles umsonst.«

Neil schaute sie verdattert an.

»Warum?«

»Na, weil du nichts erreicht hast, außer dir einen anzusaufen. Du bist eine tolle Unterstützung.«

»Wieso nichts erreicht? Wir treffen uns morgen alle und besprechen …«

»Wie, wir treffen uns alle?«

»Na ja, ich dachte …«

»Hör auf zu denken, frag mich doch einfach?«

»Ja, hätte ich machen sollen. Entschuldige, wollen wir uns irgendwo treffen oder lieber bei dir?«

Rose funkelte ihn an.

»Bei mir. Wenn es sein muss. So, und jetzt lass uns versuchen, Mo zu finden. Ich habe in der Zeit, wo ich auf dich gewartet habe, schon ein wenig probiert und glaube, ich bekomme es hin. Sei bitte leise und bleib dicht bei mir.«

Sie ergriff Neils Hand und konzentrierte sich auf Mo und darauf, dass sie einen Weg zu ihm finden wollte.

Nichts geschah.

Sie konzentrierte sich stärker.

Nichts.

Sie merkte, wie ihr der Schweiß die Stirn herabrann. Sie fühlte das Kitzeln vom Gras unter ihren Füßen.

Sie bemerkte Neils Unruhe, und dass sie dabei war, seine Hand zu zerquetschen.

Sie wusste, dass sie es konnte. Rapy hatte es ihr gesagt. Und sie glaubte ihr. Sie wollte nicht zweifeln, nicht an sich zweifeln. Außerdem hatte sie Knut gefunden, obwohl sie ihm ja nicht näher stand. Sie verdrängte jeden Gedanken an Knut und konzentrierte sich wieder auf Mo.

Monty Schmied.

Aber immer noch nichts.

Warum konnte denn nicht einfach eine Tür in dem verdammten Baum erscheinen? Sie fokussierte den Baum und dachte immer wieder an Türen, Tore, Durchgänge, Wege.

Nichts. Wenn sie die Tür doch nur einfach malen könnte, so wie bei dem Weg zu ihrer Wiese. Oder wie bei Neils Auftritt im Gasthaus, einfach nur denken und bilden.

Aber warum eigentlich nicht?

Sie fuhr die Konturen der Tür am Baumstamm mit ihrem Finger nach. Dann die Scharniere und einen Türgriff, eigentlich eher ein borkiger Knauf. Vor ihrem inneren Auge war sie perfekt in den breiten Stamm des alten Baums eingepasst.

Sie hörte Neil aufkeuchen und öffnete die Augen.

Der Stamm des Baums flackerte und die Umrisse einer Tür zeichneten sich schwach ab. Sie sprang vor, öffnete schnell die Tür und zog Neil mit sich hindurch.

Es war wie vor wenigen Momenten, alles verschwamm und fühlte sich dann wie Schweben an.

Sie dachte weiter an Mo. Und los. Die Wiese verschwand mit jedem Schritt im Hintergrund. Konzentrier dich! Einatmen, Schritt, Ausatmen, Schritt, zu Monty, zu Mo Schmied. Neil nicht loslassen. Immerhin wurde ihr nicht so schwindelig wie beim ersten Mal. Dann hatten sie es geschafft.

Sie standen in einer riesigen, schlichten Lagerhalle. Meterhohe Türme voller Boxen, Kartons und Schachteln, die sich überall stapelten. Als sie ein paar der Türme passiert hatten, erblickten sie Mo.

Er stand vor einer Wand aus unterschiedlich hohen Haufen und stapelte Kisten aufeinander, nahm hier wieder eine runter, stellte sie an eine andere Stelle und brummte unzufrieden.

Neil stieß sie an.

»Die Öffnung ist weg.«

»Ja, das habe ich erwartet.«

»Und wie kommen wir hier wieder weg?«

»So wie wir hergekommen sind.«

»Aber …«

Sie drehte sich zu ihm und fixierte ihn.

»Es war und ist schwer genug, und es wäre toll, wenn du an mich glauben würdest und keine Zweifel hättest.«

Sie zog Neil kurzerhand am Arm mit in Richtung Mo, der weiterhin Boxen, Kartons und Schachteln stapelte.

Auf Neil wirkte es wie eine seltsame Abart von Tetris, aber es war kein Muster und keine Logik für ihn erkennbar. Davon abgesehen war es allemal besser als das, was er in den vergangenen Jahren geträumt hatte.

Mo hatte sie entweder nicht bemerkt oder er ignorierte sie.

Rose zupfte Mo am Ärmel. Er blickte von einem länglichen blauen Paket auf und sah sie verständnislos an.

»Hallo, Mo, wir haben uns heute Nachmittag getroffen. Nach deiner Rede bei der Selbsthilfe-Gruppe. Erinnerst du dich?«

Er schaute sie geistesabwesend an und blickte dann wieder auf das Paket, welches er in den Händen hatte.

»Es ist vielleicht verwirrend für dich, aber du träumst das hier gerade. Und wir sind zu Besuch in deinem Traum. Verstehst du?«

Er nickte und sagte Nein.

Dann stellte er das blaue Paket hochkant auf einen Stapel und sah sich nach dem nächsten Baustein um.

»Wir brauchen deine Hilfe, denn es gibt viele wie deine Schwester Silvia, und wir glauben, dass ihre Krankheit künstlich herbeigeführt wurde. Sie wird gefangen gehalten, und viele andere auch.«

Rose suchte nach Verständnis oder Erkenntnis in seinem Blick.

»Silia.« Er nickte vage.

Dann nahm er ein gelbes Paket und stellte es neben das blaue.

»Ich muss das hier fertig bekommen. Ich muss das lösen. Fertig werden.«

Auf dem Stapel, wo er die bisherigen Boxen weggenommen hatte, waren wieder sechs neue Kästen erschienen. Er nahm sich ein kleines rotes Paket und musterte die verschiedenen Stapel.

»Mo? Wir denken, dass wir ihr helfen können und auch du kannst uns helfen. Wir könnten dir die Grenzlande zeigen, damit du uns glaubst.«

Mo schaute kurz auf und nuschelte etwas von ›fertig kriegen‹.

Rose blickte verzweifelt zu Neil.

»Hast du eine Idee, wie wir zu ihm durchkommen?«

Neil zuckte die Schultern.

»Ich kann es ja auch mal versuchen.«

Er stellte sich zwischen Mo und die Kistenstapel, nahm ihm das rote kleine Paket ab und legte es vorsichtig auf den Boden.

Dann legte ihm eine Hand auf die Schulter und schaute ihm in die Augen.

»Hey, mein Freund. Ich bin es, Neil, erinnerst du dich? Wir haben uns vorhin kurz kennengelernt, du hattest von Silvia erzählt. Von deiner Schwester Silvia. Erinnerst du dich? Das hier ist Rose. Sie war bei mir. Wir wollen dir helfen. Und du kannst uns auch helfen. Das klingt doch toll, oder? Freunde helfen einander doch, oder? Na komm, magst du uns nicht helfen? Bitte …«

»Silvia, helfen. Ja. Ich muss Silvia helfen. Unbedingt. Ich muss das hier lösen.«

Er streifte Neils Hand von der Schulter und nahm das kleine rote Kästchen wieder auf. In ihrem alten Leben hätte Rose etwas für seine Beharrlichkeit übrig gehabt. Ordnung und Struktur waren ihr einmal sehr wichtig gewesen. Sie sah Neil ratlos an.

»Warum machen wir es nicht einfach so wie die Katze und der Rabe bei uns?«

»Was meinst du?«

»Na die vulkanische Gedankenverschmelzung, das hat doch bei uns auch geklappt.«

»Das mit dem Gedanken teilen? Aber du weißt doch überhaupt nicht, wie das geht. Und ich im Übrigen auch nicht. Wie willst du das anstellen?«

Neil warf ihr seinen besten Lass-mich-mal-machen-Blick zu und wandte sich wieder an Mo. Er stellte sich erneut direkt vor ihn und legte Mos Daumen links und rechts auf seine Schläfen. Die restlichen Finger verteilte er über den Kopf. Genauso legte er Mo die Finger auf den Kopf.

»Meine Gedanken zu deinen Gedanken. Mein Geist zu deinem Geist.«

Rose zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

Beide starrten sich an.

Sie hatte keine Ahnung, was er da tat und ob es funktionierte. War das nicht irgendein verrücktes Ritual aus einer Science-Fiction-Serie gewesen?

Eine Weile passierte gar nichts, beide starrten sich einfach nur an. Dann fing Mo plötzlich an zu wimmern und sprang mit einem gequälten Schrei zurück. Die Lagerhalle verblasste. Sie befanden sich in einer endlosen weißen Ebene, ohne oben und unten. Mitten im Nichts standen sie keuchend da.

Rose trat schnell zu ihnen. Beide blickten sie an, Mo schnaufte schwer, schien sie aber zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen.

Bevor sie Neil eine Standpauke halten konnte, fragte Mo: »Und ihr meint wirklich, ihr könnt mir mit Silvia helfen? Wie? Und wie genau soll ich euch helfen?«

Neil grinste breit.

»Hallo, mein Freund. Rose wird uns hinbringen, nimm einfach ihre Hand. Das mit dem Hackenzusammenschlagen übernimmt sie schon«, sagte er lachend.

Eine Person zu finden, die ihr vertraut war, war eine Sache, augenscheinlich funktionierte es auch mit einer Person, die sie berührt hatte. Aber wie sollte sie jetzt in die Grenzlande kommen? Sie dachte angestrengt an die Grenzlande, an die Orte, wo sie gewesen war, doch nichts geschah. Sie dachte an ihre Wiese, an das Gasthaus, an Nika und an Schattenschwinge. Wo sollte sie überhaupt mit Mo hin, dass er ihr glaubte? Vielleicht war es am ungefährlichsten, wenn sie zu dem Platz vor dem ›Windlied‹ reisen würden. Es musste doch einen Weg geben, um zurück in die Grenzlande zu kommen. Zu dem großen Baum vor dem ›Windlied‹.

Sie dachte an den Baum vor dem ›Gasthaus Windlied‹, dass sie dahin wollte, dass sich ein Weg zeigen sollte, der sie alle dorthin führte.

Sie schloss die Augen und sah den Weg vor sich.

Sie hörte Mo überrascht ächzen. Sie streckte ihre Hände aus und beide Männer griffen zu. Sie öffnete ein Auge und der Weg war immer noch da, wenn auch nur schwach und unauffällig wie eine abklingende Fata Morgana. Nach ein paar Schritten fing die Luft um sie herum an zu flimmern, dann traten sie aus dem Baum heraus.

Mo schaute sich um.

»Was zum Teufel!?«

»Das, mein Freund, ist eine etwas längere Geschichte, aber wir erklären dir das alles gern bei einem Bier im Gasthaus, oder Rose? Dafür ist noch Zeit, ja?«

Rose lachte erleichtert auf. Sie hatte es geschafft, sie hatte tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes einen Weg gefunden in einen anderen Traum hinein und dann zurück in die Grenzlande. Im Nachhinein erschein es ihr logisch und einfach. Klar, wenn man irgendwohin wollte, so brauchte man einen Weg. Sie hakte sich bei beiden Männern unter und zog sie in Richtung des Gasthauses.

Vor dem Gasthaus angekommen, ließ sie die beiden los, um sich kurz durch die Haare zu fahren.

Aus den Augenwinkeln merkte sie, wie Mo anfing zu flimmern und durchsichtig wurde. Schnell ergriff sie wieder seine Hand.

»Was war das?«, fragte Mo verwirrt. »Es fühlte sich an wie ein Sog, der mich wegziehen wollte. Dann hast Du meine Hand ergriffen und alles war wieder wie vorher.«

Sie wechselte einen Blick mit Neil, aber er wirkte genauso ratlos wie sie.

»Dann gehen wir halt auf Nummer sicher. Neil, wärst du so freundlich, uns die Tür zu öffnen?«

Sie hakte sich wieder bei beiden unter und sie betraten gemeinsam die Gaststube.

»Willkommen, Lady Rose, es ist uns wie immer eine Freude, euch und eure Begleiter zu bewirten. Kommt mit«, sagte Nika mit einem strahlenden Lächeln.

Sie führte die drei an einen schönen Eckplatz.

Das war, neben dem Luxus, den Rose hier in den rauen Grenzlanden genießen konnte, einer der wichtigsten Vorzüge des ›Windlied‹. Sie war vom ersten Moment absolut überzeugt gewesen, stets willkommen zu sein.

Rose setzte sich zwischen die beiden in die Ecke und hielt Mos Hand unter dem Tisch gefasst.

»Versteh das nicht falsch, ich will bloß auf Nummer sicher gehen.«

Mo nickte nur.

Nika brachte ihre Getränke und natürlich auch ein wenig kalten Braten, Brot und den leckeren Kräuterdip. Rose erzählte Mo die ganze Geschichte noch einmal. Auch wenn er vieles bereits durch Neils Gedanken erfahren hatte, wollte Rose sich vergewissern, dass er alle Details kannte. Er hörte ihr fasziniert zu und schaute sich währenddessen um. Neil beschränkte sich aufs Zuhören und Biertrinken. Als sie geendet hatte, sah er sie nachdenklich an.

»Und ihr meint wirklich, meine Schwester ist hier irgendwo und wird gegen ihren Willen hier festgehalten? Und wacht deswegen nicht mehr auf?«

Rose nickte. Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie nicht sicher war, ob Silvia sich wirklich in Schattenkliff befand. Sie hatte den Punkt ja nur einmal kurz auf der Karte gesehen, beim nächsten Suchen war er verschwunden gewesen. Sie wusste auch nicht, was das bedeutete. Sie schenkte ihm reinen Wein ein. Das war das Mindeste, was sie ihm schuldig war.

»Ich bin mir ziemlich sicher, ja. Als ich an sie dachte, sah ich einen Punkt auf der Karte. In Schattenkliff. Seitdem ist er nicht mehr sichtbar gewesen. Sie war aber definitiv da.«

»Das heißt, du weißt nicht, wo sie genau ist.«

Rose schüttelte den Kopf.

»Nein, aber ich werde es herausfinden. Deswegen bin ich hier.«

»Sind wir hier, meinst du.«

»Ich mache dir keine falschen Versprechungen. Ich werde alles daran setzen, sie zu finden. Ich will dieses Rätsel lösen.«

Mo schaute sie lange an.

Dann nickte er.

»Aber wofür braucht ihr mich? Ich bin ein Mann der Wissenschaft. Wenn ich es nicht gerade selbst erlebt hätte, würde ich euch einweisen lassen. Das ist doch alles total irreal, vielleicht sollte ich mich selbst einweisen lassen.«

Neil lachte auf.

»Du bist in der besten Gesellschaft, denselben Gedanken hatte ich auch schon.«

Mo senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern,

»Der da an der Bar, das sind Hasenohren, oder?«

Rose nickte. »Das ist Nuan, er bedient hier auch.«

»Wenigstens scheinst du uns jetzt mehr zu glauben. Wir brauchen dich in der wachen Welt. Wir brauchen einen Arzt, dem wir vertrauen können.«

»Aber wofür? Meinst du, alle anderen sind auch im Schlafkoma wie Silia?.«

»Nein, weiß ich nicht, meine ich nicht …«

»Du kennst dich in der Welt der weißen Götter aus. ›I’ll sleep when I’m dead‹«, warf Neil ein. Rose und Mo schauten ihn nur verwirrt an.

Neil zuckte mit den Schultern.

»Und was hilft euch … uns das?«

»Das werden wir wissen, wenn es so weit ist. Es war uns wichtig, dass du uns glaubst, dass wir dir hier die Geschichte erzählen konnten. Wir sollten uns morgen treffen, Neil wird dich anrufen und alles Weitere mit dir absprechen. Okay?«

Mo nickte.


Es war immerhin eine Chance auf eine Erklärung, was mit seiner Schwester geschehen war. Sie machte ihm keine Versprechungen, sie erbat sich nur seine Hilfe und Unterstützung. Auf den Einwand hin, dass er auch nicht viel mehr wüsste als die täglichen Routinen bei Patienten. Bei den Schlaf- und Wachkomapatienten kannte er sich zwar aus, aber auch dort war die Wissenschaft noch nicht so weit, wie er es gern hätte. Sie erwiderte nur, dass es tausendmal mehr wäre, als sie wüssten. Das konnte er nicht leugnen.


»Du siehst ziemlich fertig aus, leg dich doch auf das Sofa und schlaf ein wenig, mein Freund. Wir hören nachher voneinander.« Zum Abschied legte Neil wieder freundschaftlich seine Hand auf Mos Schulter und sagte ihm, er möge sich an den Traum erinnern. Neil würde ihn am nächsten Morgen anrufen. Mo nickte.

Sie brachten ihn in Roses Zimmer zum Sofa. Er streckte sich aus und war schnell eingeschlafen.

Triumphierend wandte Neil sich an Rose.

»Na, wie habe ich das gemacht?«

Sie boxte ihm hart auf den Oberarm und funkelte ihn wütend an. »Wie kannst du nur solche Risiken eingehen, ohne zu wissen, ob es funktioniert?«

Neil starrte sie perplex an. Er hatte mit allem gerechnet, auch dass sie vielleicht ungehalten war. Aber nicht so stinksauer.

»Männliche Intuition. Es fühlte sich einfach richtig an. Ich habe auf mein Bauchgefühl gehört.«

»So was gibt es nicht, du Hornochse«, fauchte sie ihn an. »Und was wäre gewesen, wenn ihr beide nur noch sabbernde Idioten gewesen wärt? Was dann? Hast du dir nur eine Minute Gedanken darüber gemacht? Nein? Echt? Ach so. Tolle Intuition, echt Weltklasse. Und jetzt komm, wir müssen noch nach Schattenkliff, und da ich noch nie dort war, werden wir reiten müssen.«