Prolog

Der alte Jergh baute seine Tische vor dem Laden auf. Er war zwar viel zu früh dran, aber so konnte er sich Zeit lassen. Er versuchte es diesmal mit einer farblichen Sortierung. Obst und Gemüse bunt gemischt durcheinander, aber nach Farben aufeinander abgestimmt. Warum nicht? Er fand es schön. Immerhin regnete es nicht. Sicherheitshalber klappte er die Markise hoch und überprüfte den Stand der Stützen. Letzte Woche waren sie ihm bei einem kleinen Windhauch weggerutscht. Die Waren lagen über den ganzen Gehweg verstreut worden und die Kunden hatten die Flucht ergriffen. So was durfte einfach nicht noch einmal passieren. Nachdem er alles dreimal kontrolliert hatte, setzte er sich auf das alte Weinfass beim Eingang und stopfte seine Pfeife. Er schaute die noch ruhige Hauptstraße von Seestadt runter. Er mochte den Morgen. So ruhig und friedlich. Bald würden der betriebsame Lärm zunehmen und der Geruch nach Fisch.

Ein Flirren am anderen Ende des Marktplatzes erregte seine Aufmerksamkeit. Was der Flimmernde wohl tun würde? Oder würde er im Bruchteil eines Moments wieder verschwinden wie die meisten?

Hauptsache, sie fielen nicht laut schreiend vom Himmel und vertrieben potenzielle Kunden. Sie prallten eh nie auf. Vorher lösten sie sich in Wohlgefallen auf und verschwanden dahin, wo sie hergekommen waren. Wo auch immer das war.

Oh, der hier war nicht allein und er wirkte nicht ganz so durchsichtig. Eine andere Gestalt mit Mantel und Schlapphut hatte ihn bei der Hand gepackt und zog ihn mit in die ›Marinierte Muschel‹. Eine schlechte Kneipe, voller Schläger und zwielichtiger Gestalten. Warum gaben die sich mit Flimmernden ab? Sicher, es gab Gerüchte, aber was kümmerte es ihn? Er hatte seine eigenen Probleme.

Der Geruch von Fisch nahm zu. Bald würden die ersten Kunden kommen.

Hoffentlich.

Er vergewisserte sich noch mal, dass der Kasten mit den Fluchtpilzen gut zur Geltung kam, und entzündete seine Pfeife erneut.

1

Wie er diese Rapportgespräche hasste. Er war doch kein kleiner Junge mehr. Hatte er nicht zur Genüge bewiesen, was er konnte? Hatte er nicht bewiesen, wie weit er zu gehen bereit war? Aber schon wieder war er in die Schatten gezerrt worden. Wie ein kleiner unartiger Junge. Scheinbar hat es niemand mitbekommen, also wurde wohl immerhin darauf geachtet, ihn nicht zu diskreditieren. Und jetzt? Nun hing er hier in den Schatten. Verdammt zum Warten. Es war ja nicht so, dass er nicht wusste, dass er angekommen war. Es war eine pure Machtdemonstration. Als wenn das nötig wäre. Er konnte sich nicht einmal kratzen, die Schatten hielten ihn fest umschlungen. Auch das war nicht nötig. Er hatte ihm viel zu verdanken, aber er hasste ihn.

Eine gefühlte Ewigkeit später gab er sich dann die Ehre. Er konnte seine Präsenz spüren, bevor er die Stimme aus den Schatten hörte.

„Sie ist wieder da.“

Endlich ließen die Schatten von ihm ab.

„Wer?“, fragte er unverblümt.

„Als wenn du es nicht wüsstest. Das Mädchen. Sie träumt wieder.“

„Ja.“ Er hatte keine Ahnung, was er sonst hätte sagen sollen.

„Ist das alles, was du zu sagen hast? Du weißt, wie mächtig sie ist.“

„Das war sie mit dem Katzenvieh, aber um das hat sich Merrick ja gekümmert. Ohne die Katze ist sie hilflos.“

Die Schatten wirbelten unruhig umher. Eine Spiegelung der Gemütslage ihres Herren.

„Sie muss sterben. Merrick hat schon bei der Katze versagt. Das darf sich nicht wiederholen.“

„Wie hätte er denn eine Göttin töten können? Was er vollbracht hat, war so gut, wie sie zu töten. Gefangen für immer. Schade nur, dass wir nicht von ihrem Leid zehren können“, versuchte er seinen Meister zu beschwichtigen.

„Sie muss sterben. Du hättest an ihre Medikamente denken sollen, bevor du dich um Merrick gekümmert hast. Schlimm genug, dass er sie leben ließ. Er war einfach zu weich.“

Zu weich? Merrick? Derjenige, der das Schicksal so vieler Menschen auf dem Gewissen hatte, sollte zu weich gewesen sein? Aber im Vergleich zu der Stimme aus den Schatten war alles weich. Selbst Steine. Er hätte an die Medikamente denken müssen? War ihm nicht von klein auf beigebracht worden, dass er zu gehorchen hatte und nicht zu denken?

„Wie Ihr wünscht, Meister“, wandte er beschwichtigend ein. „Aber wäre das nicht etwas zu voreilig? Bedenkt all die zusätzlichen Emotionen. Ich werde gut auf sie aufpassen und da sein, wenn es soweit ist.“

„So sei es Halbschatten, aber enttäusche mich nicht.“ Den Rest musste er nicht aussprechen. Merrick war wie ein Bruder für ihn gewesen. Er hatte alles für ihn getan. Aber das reichte nicht. „Gewiss Meister“, er verbeugte sich und trat einen Schritt nach hinten in die wartenden Schatten.

2

Sie lag auf einer großen grünen Wiese und schaute hoch, zu den Wolken.

Blumen, Grashalme, Wolken. Nur unterbrochen von umhertollenden Schmetterlingen, die sich im Lufttanz drehten.

Ruhig und friedlich. Alles war gut.

Das friedliche Gefühl wich der puren Angst. Ein durchdringender Schrei bohrte sich wieder und wieder in ihren Kopf.

»Rose, hilf mir! Rose!«

Schweißgebadet schreckte sie auf. Schon wieder. Ihr Herz pochte wie wild. Sie trank einen Schluck Wasser und wartete, dass dieser entsetzlich hilflos klingende Schrei verblassen und sich ihr Puls wieder normalisieren würde.

An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Also ab ins Bad und dann an die Arbeit.

Rose hasste ihren Job.

Vor allem hasste sie glückliche, tanzende Kinder. Nicht immer. Aber zumindest manchmal. Zumindest hasste sie solche Auftragsarbeiten wie diese. ›Sommerfest‹, überall lachende tanzende Kinder. Grillende Väter, hübsche Mamis, ein riesiges Planschbecken. Das volle Gute-Welt-Programm.

Sie hasste tanzende, lachende Kinder. Dabei mochte sie es eigentlich, Album-Cover für CDs und Platten zu gestalten.

Auch wenn der Auftrag verdammt gut bezahlt war – er war furchtbar. Wieso schaffte sie etwas, was sie aufs Tiefste verabscheute, so gut in einem Bild einfangen?

Sie zeichnete und malte schon immer gern. Egal ob mit Stiften und Farben oder am Computer. Bloß gewisse Themen mochte sie halt nicht. Aber hat das nicht jeder Künstler? Bei dem Angebot konnte sie aber unmöglich Nein sagen. Es war ihr Stammkunde, der sie meistens frei über die Ausführung bestimmen ließ. Sie hatte ein gutes Händchen dafür, das Thema und den Zeitgeist punktgenau zu treffen.

Sie hatte es lange vor sich hergeschoben, damit anzufangen – und eine großzügige Deadline. So konnte sie sich Zeit lassen, sich mit dem Gedanken anzufreunden, und sogar noch zwei weitere Projekte fertigstellen. Sie schlief schlechter seit ein paar Wochen. Aber da in zwei Tagen Abgabetermin war, musste sie es endlich fertig machen. Dann hatte sie es zumindest hinter sich.

Dieser Auftrag würde sie noch bis zum Ende des Jahres etwas sorgenfreier leben lassen. Man wusste ja nie, was kommen würde. Und die nächste Anfrage dieser Art könnte sie dann vielleicht ablehnen. Sie schluckte ihren Unmut runter und versuchte, sich trotz der miesen Nacht wieder zu konzentrieren.

Aber dieser verzweifelte Schrei hatte sich in ihr festgebrannt.

»Hilf mir, Rose!«

Dann doch lieber wieder gar nicht träumen.

Etliche Stunden später überprüfte sie nochmals den Schattenwurf, machte ein paar letzte Farbkorrekturen und speicherte die fertige Grafik mit verschiedenen Filtern ab. Sie schrieb noch ein paar erläuternde Zeilen mit dem Link an ihren Auftraggeber und drückte auf ›Senden‹. Geschafft. Sie trank den Rest ihres Earl Grey mit frischem Ingwer, Waldhonig und Zitrone und atmete erleichtert aus. Eigentlich konnte nichts mehr schiefgehen, ihr Auftraggeber hatte sie vor drei Tagen total begeistert angerufen und ihr erzählt, wie toll und lebendig doch der Entwurf sei. Man könne die fröhlichen Kinder fast lachen hören und die positive Energie spüren.

Wie sie tanzten und sich drehten – es würde einem fast schwindelig. Sinnloses Gelaber. Zum Kotzen! Ihr wurde auch schwindelig, aber aus anderen Gründen. Dabei war es ja nur lieb gemeint von ihm. Sie sollte es genauso umsetzen. Das war erledigt. Sie war erleichtert, dass er keine Änderungen wünschte. Zufrieden schaltete sie ihren Rechner aus und gönnte sich ein entspanntes Bad. Sie machte sich bettfertig, kuschelte sich in ihr Bett und beschloss, noch ein wenig in ihrem Lieblingsbuch zu lesen. Momo. Wie oft hatte sie dieses Buch schon gelesen? Und wann eigentlich zum ersten Mal?

Bücher waren wie Freunde. Selbst wenn man Ewigkeiten keinen Kontakt hatte, wann immer man sich wieder traf, war es so, als wäre es erst gestern gewesen. Man fing da an, wo man aufgehört hatte, und alles war wie früher. Erneut das Erlebte durchleben. Und oftmals entdeckte man ein Detail, das einem bis dahin verborgen geblieben war.

Nachdem sie eine bequeme Liegeposition gefunden hatte, schlug sie das abgegriffene Buch beim Lesezeichen auf. Sie schaffte fast sechs Seiten, bevor ihr das Buch aus den Händen glitt und sie einschlief.

3

Sie lag wieder auf der großen grünen Wiese, über sich die Wolken. Blumen, Grashalme, Wolken. Nur unterbrochen von umhertollenden Schmetterlingen, die sich im Lufttanz drehten. Ruhig und friedlich. Alles war gut.

Und dann abermals dieser gellende Schrei. Immer und immer wieder. Immer kläglicher und gequälter. Es machte ihr Angst. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?

»Hilf mir, Rose!«

Einmal mehr erwachte sie mit einem Ruck, sie war schweißgebadet. Der klägliche Schrei verblasste nur langsam aus ihrem Bewusstsein.

Na, großartig, jahrelang fragte Doktor Cid Kerzerelm, wie es ihr denn ginge und ob sie träumen würde. Sie hatten sich im Laufe der Jahre darauf geeinigt, dass sie ihn informieren würde, sobald sich etwas an ihrem Zustand änderte. Und knapp einen Monat – oder waren es schon zwei? – nach seinem Ableben fing sie wieder an zu träumen. Und die Träume wiederholten sich. Sie wurden intensiver. Zumindest hatte sie den Eindruck. Oder kam ihr das nur so vor, weil sie jede Nacht denselben Traum hatte? Oder dachte sie nur, jede Nacht denselben Traum zu haben? Jetzt hätte sie ärztlichen Beistand gebraucht.

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die Nachfolge-Praxis hatte sie sogar angerufen, aber sie hatten wohl außer den Räumen nur eine alte Patientenliste mit wenigen Krankenakten übernommen.

Ihre Akte enthielt nur ein paar Seiten, mit ein paar Einträgen aus ihrem ersten Jahr in der Praxis. Die Rezepte lagen nicht vor.

Doktor Kerzerelm hatte augenscheinlich ohne Computer gearbeitet. Und in den letzten Jahren wohl von zu Hause aus. Die Dame am Telefon war fassungslos. Ob Rose das nicht schon früher einmal aufgefallen wäre. Es wäre ihr bestimmt aufgefallen, aber Rose war seit achtzehn Jahren nicht mehr in der Praxis gewesen.

Doktor Kerzerelm hatte sie in unregelmäßigen Abständen besucht. Zuletzt hatte sie ihn aber vor ein paar Jahren gesehen. Aber er hatte ihr immer versichert vorbeizukommen, wenn sie Hilfe bräuchte. Ihr Rezept bekam sie dann nach der telefonischen Bestellung mit der Post. Das war der Vorteil bei ihm gewesen. Es war unkompliziert. Sie musste nicht ihre Komfortzone verlassen. Nicht reden, wenn sie nicht wollte. Das war der einzige Grund, warum sie überhaupt noch Patientin bei ihm war. Sicherlich, er war schon immer für sie da gewesen. Aber sie brauchte nur regelmäßig ihr Antiallergikum und ihr Aufbaupräparat, eben das, was sie immer von ihm bekam, seit dem Unfall.

Das Antiallergikum war handelsüblich und in jeder Apotheke nachzubestellen. Ihr Aufbaupräparat: ein speziell auf sie zugeschnittener Vitamincocktail. Er hatte ihr die Zusammensetzung auch mal aufgeschrieben, als sie vor zehn Jahren nachgefragt hatte. Also hatte sie sich, nachdem er verschwunden war, einfach die Vitamine in der Apotheke bestellt. Sie fühlte sich keinen Deut schlechter. Aber irgendwas war anders seit ein paar Wochen.

Es fiel ihr schwer, den Traum auszublenden und sich auf irgendwas zu konzentrieren.

Sie musste sich zusammenreißen. Sie fuhr den Rechner hoch, setzte ihre Kopfhörer auf und hörte klassische Musik, das beruhigte sie und lenkte ab.

Sie ging noch mal alle E-Mails der letzten Tage durch, sicher ist sicher. Danach räumte sie ein wenig auf, packte das Geschirr in den Geschirrspüler und arbeitete die Schmutzwäsche ab. Für eine außerplanmäßige Bestellung bei Knut gab es leider keinen Grund. Wie gern hätte sie ihn jetzt gesehen und mit ihm geredet. Aber morgen wieder, sie würde schon einen Grund finden.

Ratlos schaute sie sich in ihrer Wohnung um, alles erledigt.

Das Wetter war angenehm mild und in der Wohnung nichts mehr zu tun. Also beschloss sie, ein paar ausgedehnte Runden im Park zu drehen, die Bewegung und die frische Luft würden ihr guttun. Sie packte eine Flasche Wasser, einen Apfel, ihren Block und ihren Schlamper in den Rucksack.

Als sie am frühen Abend wieder nach Hause kam, schuf sie sich einen kleinen leckeren Salat und ein Käsebrot und las nebenbei in ihrem Newsfeed.

Nach einer ausgiebigen Dusche saß sie lange in ihrem flauschigen Bademantel mit den Füßen unter der Decke auf ihrem Bett und trank Tee. Earl Grey mit frischer Zitrone und Ingwer.

4

»Hilf mir, bitte.«

Rose hörte dieses klägliche Flehen, um sie herum war nichts Greifbares, nur eine endlose weiße Leere. Nicht mehr die Wiese. Aber sie konnte nicht ausmachen, woher es kam.

»Rose? Bitte hilf mir.«

Es war eine angenehme Stimme, ruhig und vertrauenerweckend. Sie hatte keine Angst mehr. Aber woher kam sie?

»Wo bist du denn?«

Sie musste träumen, natürlich träumte sie das, aber an so etwas konnte sie sich nicht erinnern. Sie konnte sich zwar oft kaum an ihre Träume erinnern und an einige wollte sie sich nicht erinnern. Aber in den letzten Wochen träumte sie vermehrt. Rose überlegte, ob sie schon einmal so geträumt hatte, sich so bewusst darüber war zu träumen. Hatte sie in Träumen überhaupt schon mal überlegt? War so was möglich?

»Hier drüben bin ich, folge doch einfach meiner Stimme«, sagte sie.

Rose ging den Tönen nach. Nach einer ganzen Weile kam sie an eine große Holztür mit dicken Eisenbeschlägen und vier massiven Bügelschlössern.

»Hier geht es nicht weiter.«

»Natürlich geht es weiter. Rose, du musst es nur wollen. Hilf mir bitte«, erklang es eindringlich hinter der Tür. Was immer es war, es musste hinter der Tür sein, weil um sie herum nur eine weiße Unendlichkeit herrschte. Das machte zwar keinen Sinn, aber das war in Träumen wohl so.

»Ich will ja, aber die Tür ist abgeschlossen. Ich komme nicht durch, ich habe keine Schlüssel für die Schlösser.«

»Ach Rose.« Sie hörte Bedauern und Frustration.

»Du musst es wirklich wollen, Rose. Wenn du tief in dich reinhörst, weißt du, was hinter dieser Tür ist. Du hast sie selbst geschaffen und verriegelt. Du musst sie nur öffnen. Du hast es schon so weit geschafft. Endlich bist du da, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.«

Das ergab alles keinerlei Sinn. Wer war das? Sie klang so vertraut, aber nicht greifbar. Sie hatte keinen Schimmer, wem diese Stimme gehörte und wie der Besitzer auf die Idee kam, dass sie diese Tür geschaffen hatte. Warum sollte sie eine Tür mit solch klobigen Vorhängeschlössern errichten?

Es war eine riesige Holztür. Massiv und stabil verarbeitet. Schwere dicke Holzbretter, die mit Querstreben, groben Metallnieten und den vier Vorhängebügelschlössern verbarrikadiert war.

Eine Tür wie jede andere, in ihrer Kindheit sahen alle verschlossenen Türen so aus. Moment mal. Wie zum Teufel? Wie konnte sie das vergessen haben?

Diese Tür war ein Ebenbild all jener Türen, hinter denen in ihrer Kindheit all die Geheimnisse lagen, die verlockend waren, aber nichts für ein kleines Mädchen. Diese Tür war genauso wie all die Türen, hinter denen sie die schmerzhaften Erinnerungen und Demütigungen ihrer Kinderzeit verschlossen hatte.

Man wandte dem Problem den Rücken zu, passierte die Tür und verriegelte sie. So einfach war das. Es war immer eine Tür da gewesen, hinter der man die Probleme und Ängste lassen konnte. Damals war es ganz einfach gewesen, man ging einfach auf die Tür zu und öffnete sie. Die Schlösser waren nie ein wirkliches Problem gewesen. Auf die Tür zugehen und die Klinke hinunterdrücken. Dann öffnete sie sich. Genauso wie das Verrammeln. Man tat es.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Wieso fiel ihr das jetzt alles wieder ein? Aber andererseits … dies war ein Traum, also warum nicht? Man hat doch manchmal diese Déjà-vu-Träume, eventuell war das hier ja einer. Gab es das wirklich? Hatte sie das alles schon mal geträumt? Sie würde es nie erfahren, wenn sie weiterhin hier herumstand.

Sie trat entschlossen auf die Tür zu, drückte die Klinke hinunter und stieß die Tür auf.

»Eine Stofftierkatze?«

Was sollte das? Wo war der Besitzer der Stimme? Warum lag hinter der Tür nur ein Stofftier? Und doch, die Katze kam ihr irgendwie bekannt vor. Ein seltsamer Traum.

»Nicht irgendeine Katze«, hörte sie die Stimme wieder. Aber sie sah nur eine kleine rot-orangefarbene Stofftierkatze auf dem Boden liegen.

Rose war verwirrt, sie erschien ihr vertraut, aber woher?

»Hallo Rose«, sagte die Stimme.

»Äh, hallo.« Sie sah sich um, aber da war immer noch nichts. Sie schaute wieder die Katze an, die vor ihr auf dem Boden lag. »Wer bist du?«, fragte sie, aber es war auch sonst niemand dort, nur dieses zierliche Katzenstofftier. Warum kam es ihr nur so vertraut vor? Sie hockte sich hin und nahm die Katze vorsichtig hoch, um sie genauer zu betrachten.

»Weißt du das echt nicht mehr? Ich bin …«

Da durchfuhr es sie wie ein Blitz. Mit der Berührung des Stofftieres brach eine massive Flut von Erinnerungen über Rose ein. Das flauschige Fell, diese niedlichen Augen. Sie drückte die Katze fest an sich. Und der Geruch. Wie war das möglich? »Rapy. Rapy, du bist meine Rapy-Katze. Bist du es wirklich? Wie kann das sein?«

»Ja, ich bin’s, deine Rapy-Katze! Erinnerst du dich jetzt?«, antwortete die Katze mit einem Anflug von Ungeduld.

Sie hatte Rapy von Ada bekommen, ihrem Kindermädchen aus Schottland. Zu ihrem siebten Geburtstag. Kurz nach dem Unfall. Es hatte an dem Tag gegossen wie aus Eimern. Rose saß am Fenster, starrte gegen die Scheiben und stellte sich immer wieder dieselben Fragen.

Aus welchem Grund? Warum ich? Weshalb sind sie tot?

Warum nicht ich?

Ada war toll gewesen und sie hatten ein inniges Verhältnis gehabt. Bis zu dem Unfall. Danach wollte Rose mit niemandem reden, und auch mit Ada meist nur das Nötigste, die nach dem Unfall alles Menschenmögliche getan hatte, um Rose zu helfen. Was Rose nicht wollte.

Ada war immer so nett zu ihr, aber Rose wollte nur ihre Eltern wiederhaben. Aber immerhin hatte sie mit Ada geredet, sonst hatte sie niemanden an sich herangelassen. Ada war noch über zwei Jahre nach dem Unfall bei ihr geblieben, sie hatte sich nie gefragt, wer sie überhaupt weiterbezahlt hatte. Ada hatte ihr gesagt, dass der Name der Katze ›the rapy cat‹ sei. Sie hatte einen starken irischen Akzent gehabt, der Rose manchmal zum Kichern gebracht hatte.

Rose hatte nur ›Rapy‹ verstanden und war glücklich mit ihrer neuen Freundin, der sie alle ihre Ängste und Sorgen anvertraute. In ihrer Fantasie und in ihren Träumen erlebten sie die tollsten Abenteuer zusammen. Es war das beste Geschenk gewesen, an das sie sich in der Zeit nach dem Unfall erinnern konnte.

»Wie kann das sein? Habe ich das eben schon mal gefragt? Oh Rapy, ich freue mich so. Du warst irgendwann einfach fort, ich habe dich überall gesucht, aber du warst verschwunden.«

Rose erinnerte sich, wie untröstlich sie damals gewesen war. Es war kurz nach ihrem zehnten Geburtstag gewesen. Nichts und niemand konnte ihr helfen, aber es schien sie auch keiner zu verstehen. Sie hatte sie gesucht, überall. Jeden Tag aufs Neue. Sie weinte sich in den Schlaf und träumte von den furchtsamen und gequälten Schreien ihrer Rapy-Katze. Aber sie hatte sie nie gefunden.

Nur Doktor Kerzerelm zeigte sich sehr verständnisvoll in der Zeit. Er gab ihr dann nach einer Woche eine Medizin, die sie besser schlafen lassen und dafür sorgen sollte, dass sie nicht mehr so furchtbare Sachen träumen würde. Alles würde wieder gut werden. Das sagten alle, ihre Betreuer und auch der Arzt. Aber wie konnte alles wieder gut werden, wenn ihre einzige Freundin spurlos verschwunden war? Und wieder war sie allein.

Rose hatte ihre wichtigste Vertraute verloren, ihre beste Freundin. Sie schottete sich total von ihrer Umwelt ab; selbst Ada kam nicht mehr zu ihr durch. Kurz darauf verließ auch Ada sie. Aber das war ihr egal gewesen. All diese Erinnerungen überfluteten Rose regelrecht.

»Wo warst du? Wo warst du all die Jahre?«, fuhr sie die Rapy-Katze mit Tränen in den Augen an. »Wo warst du?«

»Eigentlich müsste es heißen, wo bist du. Ich wurde gefangen genommen, vor zwanzig Jahren. Und bin es immer noch. Du musst mir helfen. Ich bin auch jetzt nicht wirklich hier. Ich kann das Bild nicht lange aufrechterhalten. Ich rufe dich schon so lange, aber es war, als ob du nicht da wärst, nicht träumen würdest.«

»Ich habe auch nicht mehr geträumt, glaube ich. Ich konnte es nicht mehr. Du warst plötzlich weg und ich war furchtbar traurig. Ich habe dich überall gesucht, in der Wohnung und auch auf unserer Wiese. Aber ich habe dich nicht gefunden. Ich habe dich schreien hören in meinen Träumen, das klang so furchtbar, es hat mir Angst gemacht. Und dann … dann träumte ich irgendwann nicht mehr von deinen Schreien, ich glaube, ich habe gar nicht mehr geträumt.«

Und wieder kam eine Erinnerung aus den Tiefen ihres Gedächtnisses zum Vorschein. Ein Bild von einer riesigen Sommerwiese an einem ausgesprochen schönen Sommertag. Strahlend blauer Himmel, kaum Wolken und nicht zu heiß. Wenn sie sich recht entsann, war eigentlich jeder Tag dort der perfekte Sommertag gewesen. Ein leichter Wind strich durch die Sommerblumen und Gräser auf der unendlich weiten Wiese. Sie erinnerte sich, wie sie leichtfüßig und unbeschwert mit den Schmetterlingen über die Wiese tanzte, als gäbe es kein Morgen. Aber das gab es dort auch nicht. Es war so ein freies und unbeschwertes Gefühl gewesen, alle Sorgen und Ängste wie abgefallen und von jedem Druck befreit. Dieser Wiesenduft nach Blumen und frischem Gras.

Sie hatten oft auf dieser Wiese getanzt, sie war felsenfest davon überzeugt, dass es sich wiederholende Träume gab. Sie liebte diesen Platz in ihrer Kindheit, er gab ihr den Freiraum zu entkommen und das zu tun, was sie liebte, ohne Einschränkungen und Beschränkungen. Und Rapy war auch immer da gewesen. Mit ihr hatte sie getanzt und Geschichten erzählt. Ganz vage meinte sie, dass da auch noch andere Katzen waren, aber die Erinnerung war nicht so gut. Aber sie wusste jetzt hundertprozentig, das Rapy immer da gewesen war. Sie musste es wohl vergessen haben. Träume waren seltsam. Wie kam es, dass man einfach so von einem Ort zum anderen wechseln konnte? Wie konnte es sein, dass man felsenfest der Meinung war, das schon mal geträumt zu haben. Traum-Déjà-vu? Konnte man in Träumen eigentlich so klare Gedanken fassen?

Träumte sie überhaupt? Das alles war sehr befremdlich.

Ihr wurde schwer ums Herz, je länger sie an die Wiese dachte, und sie verdrängte das schöne unbeschwerte Gefühl, das sie nur traurig machte.

»Ein schöner Ort. Warum verdrängst du ihn?«

Woher wusste Rapy, was sie dachte?

»Es tut so weh.«

Rapy nickte.

»Ja, aber auch wenn du nicht da bist. Es ist dein Ort«.

»Wie, es ist mein Ort?«

»Du hast ihn geschaffen. Sicherlich, ich habe dir ein wenig geholfen, aber das warst alles du.«

»Wie, das war alles ich? Was meinst du?«

»Rose, diese Wiese ist so wirklich, wie hier nur etwas sein kann. Sie ist immer da.«

»Ich träume nicht mehr von der Wiese. Bis vor Kurzem habe ich ja gar nicht mehr geträumt.«

Die Rapy-Katze lächelte. »Du bist seit kurzer Zeit wieder fast jede Nacht da, auch wenn ich hier keine Macht habe, spüre ich doch deine Anwesenheit.«

»Was für ein Quatsch! Woher willst du das wissen? Ich denke, du bist gefangen?«

»Viele können ihre Wege nicht bestimmen, können sich nicht einmal an ihre Reisen erinnern und du blockierst es. Immerhin hast du endlich auf meine Rufe reagiert. Ja, ich bin gefangen, aber wir sind miteinander verbunden, Rose, und manchmal nehme ich es wahr, wenn du in unserer Welt bist.« Rapys Stimme klang traurig. »Du bist so mächtig und kräftig.«

»Ha, wo das denn bitte? Ich bin ein verdammter Krüppel, der es nicht mal schafft, vernünftig einzukaufen. Entweder schreie ich hasserfüllt rum. Oder ich heule hysterisch.« Sie schrie die Rapykatze an. Tränen kullerten aus Rose Augen, erst ein paar wenige, dann brach der Damm und sie schluchzte hemmungslos.

Sie drückte die Katze fest an sich und weinte, bis sie meinte, ein Schnurren zu spüren. »Schnurrst du?«

»Ja, natürlich, Katzen machen das gewöhnlich.«

Rose musterte die Katze verblüfft. Wie konnte das alles sein? Wurde sie jetzt verrückt? Wie kann ein Stofftier schnurren?

»Du bist nicht verrückt, Rose, und du wirst es auch nicht.«

»Aber was ist passiert? Was passiert hier gerade? Ich verstehe das alles nicht.«

»Ich weiß es auch nicht, wirklich.« Die Stimme der Katze wurde leiser.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, meine Kräfte schwinden. Das ist sehr anstrengend. Ich bin gefangen, seit wir damals getrennt wurden. Bitte vertrau mir! Du musst Schattenschwinge finden. Sprich mit den Vögeln, am besten mit den Raben. Sie werden wissen, wo er ist. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, aber der aufgeplusterte Federball ist wohl der Einzige, der dir helfen kann, mich zu finden. Er wird wissen, was zu tun ist. Sage ihm, dass ich ihm vertraue, in dieser Angelegenheit das Richtige zu tun.« Die Stimme war nur noch ein Flüstern und das Stofftier verlor zusehends seine physische Gestalt.

»Rapy? Rapy, was passiert mit dir?«

»Finde Schattenschwinge, hilf mir, Rose, bitte.«

»Aber wie soll ich das machen?« Aber sie sprach nur noch mit sich selbst. Rapy war weg.

Die Dunkelheit schien dichter zu werden und das Licht zu verdrängen. Schatten krochen seine Beine hinauf und hüllten ihn vollständig ein.

»Sie träumt wieder. Sie hat Kontakt zu der Katze. Wie kann das sein, Halbschatten? Erkläre«, raunte es in sein Ohr.

»Das ging ja schneller als erhofft. Es war nie eine endgültige Lösung, weder mit dem Katzenvieh noch mit ihr. Dieser alte Narr hat immer wieder versagt, damit ist jetzt aber endgültig Schluss. So wird es wesentlich spannender. Vertraut mir.«

***

Als Rose erwachte, wusste sie noch alles über den Traum, sie hatte noch jede Einzelheit im Gedächtnis. Es war Ewigkeiten her, dass sie so intensiv geträumt hatte. Sie konnte sich nicht entsinnen, ob sie sich jemals so detailliert an einen Traum erinnert hatte wie an diesen. Sie fühlte sich erholt, ausgeschlafen wie lange nicht mehr. Die Sonne schien durch die runtergelassenen Jalousien in ihr Schlafzimmer und ein vorwitziger Sonnenstrahl kitzelte sie in der Nase. Warum träumte sie nach all den Jahren wieder von Rapy?

Nachdem sie ihre Morgentoilette erledigt hatte, machte sie sich einen Tee mit viel frischem Ingwer und Minze. Es klingelte an der Tür, während sie überlegte, ob sie sich Pfannkuchen machen oder lieber schnell ein Müsli essen sollte.

Sie hatte nichts bestellt und erwartete nichts. Sie hatte ihre festen Rituale für Besuch. Vor allem für Lieferungen. Eigentlich bekam sie nie Besuch, und das wollte sie auch gar nicht. Es hatte sie einiges an Planung gekostet, den Ablauf zu koordinieren. Es war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass sie unvorbereitet oder – noch schlimmer! – im Pyjama an die Tür musste. Und dann auch noch, ohne zu wissen, wer das war. Sie war immer vorher fertig. Inzwischen war sie bei den meisten Bestellungen auf einen lokalen Händler umgestiegen, was zwar etwas teurer war, aber der Lieferdienst war einfach gut. Zuverlässig und gut. Sie kannte inzwischen alle, die für das ›Wir Besorgen’s Dir‹-Team arbeiteten.

Entstanden war der Lieferdienst aus der Idee zweier Freunde, die Taxi fuhren und immer mehr personalisierten Service für ihre Stammkunden anboten. So hatte sie Knut kennengelernt. Über die Suche nach Spezialtaxis war sie auf Knut und seine Kompagnons gekommen. Sie hatte die Schnauze gestrichen voll gehabt von den herkömmlichen Taxi-Unternehmen. Wer hört sich schon gern Sprüche an wie ›Ich bin doch keine Behindikutsche‹.

Sie wusste nicht, ob er das bei allen Kunden so machte, um das Eis zu brechen, oder nur bei ihr, weil sie so schlecht drauf und miesepetrig war. Aber als Erstes hatte er sie verblüfft. Sie waren erst zwei Straßen gefahren, als er an einer Ampel in den Rückspiegel blickte und sie fragte, ob sie Lust auf ein Eis hätte. Sie hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Sie wiederholte verdattert seine Frage, nur um sicherzugehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte.

Ja natürlich, ein Eis sei doch etwas Feines. Er hätte Lust auf ein Eis, beim Eis-Essen bekäme er immer gute Laune. Gute Laune könne man doch immer gebrauchen, oder nicht?

Im Laufe der Jahre hatte Rose gelernt, mit fast allem fertig zu werden. Spott, Mitleid, Frechheiten, Heucheleien. Aber da war sie sprachlos gewesen. Als er seine Frage verschmitzt grinsend wiederholte, schaute sie ihn nur fassungslos an. Also fuhren sie Eis-Essen. Sie überlegte, wie lange sie schon nicht mehr Eis-Essen gewesen war. Sie konnte sich nicht erinnern. Knut machte überhaupt kein Aufhebens um die ganze Angelegenheit. Er half Rose beim Aussteigen und ging dann fröhlich schwatzend die letzten paar Meter neben ihr her. Er erzählte von einem Film, den er kürzlich gesehen hatte, und den er sehr gut gemacht fand.

Auf der weiteren Fahrt zum Supermarkt schilderte Knut ihr den Lieferdienst, den er und seine Jungs aufziehen wollten.

Die Kunden schrieben einfach auf, was sie wann haben wollen und dann war die Bestellung genauso da und genau dann, wann sie benötigt wurde. Rose fand die Idee hervorragend und gab Knut ihre Karte.

»Und ab wann kann ich bestellen?«

Knut sah sie an und grinste. »Der Betatest hat soeben angefangen.«

Sie unterhielten sich dann angeregt über unzuverlässige Lieferdienste. Knut war ganz selbstverständlich mit ihr in den Supermarkt gekommen. Sie hatte zwar gesagt, er müsse das nicht, aber er ließ sich nicht davon abbringen. Er meinte, er bräuchte auch noch ein paar Kleinigkeiten. Sie hielt das für geflunkert, ließ es aber auf sich beruhen. Der Mann war sympathisch. Auf dem Rückweg unterhielten sie sich dann über die unfassbaren Zustände in Supermärkten: die engen, überhaupt nicht rollstuhl- und kinderwagenfreundlichen, total überfrachteten Gänge, die oft auch noch mit aufwendig gestalteten Displays verschmälert wurden.

Zwei Wochen später erhielt sie eine E-Mail, dass der Service von ›WBDL‹ nun offiziell gestartet war. Und sie die Kundin Nummer 1 sei. Es gab sogar eine App zum Downloaden.

Alles, was dazugehörte. Ihr spezieller Kundenbonus war, dass sie nichts für Eis zu bezahlen brauchte.

So kam es, dass Rose fast alles bei Knuts Lieferservice bestellte. Die Jungs waren einfach großartig.

Irgendwann bestellte sie ein Eis aus einer der angegebenen Eisdielen. Eine halbe Stunde später bekam sie eine E-Mail, in der gefragt wurde, ob das Eis geliefert werden solle oder ob sie das Eis gern außer Haus essen würde.

Die E-Mail kam von Knut. Sie musste unwillkürlich grinsen.

Sie schaute noch mal kurz auf den Plan in ihrem Handy, aber da war für den heutigen Tag nichts vermerkt. Etwas verstimmt zog sie sich schnell einen Hoodie über. Jogger und Hoodie musste gehen, die Haare waren egal, Sie aktivierte genervt die Gegensprecheinrichtung.

»Ja?«

»Hi Rose, hier ist Knut vom WBDL, ich habe hier eine Bestellung von dir.« Rose entriegelte die zwei Sperrschlösser und öffnete die Tür.

»Moin Knut, das kann eigentlich nicht sein, ich erwarte nichts.« Sie hatte automatisch nach oben geschaut, Knut war ein wahrer Riese von Mann. Blonde Haare mit Sommersprossen und einem strahlenden Lächeln. Sie lächelte unwillkürlich zurück und sah das kleine Paket an, das er ihr gebracht hatte.

»Was ist das?«

»Es ist eine Lieferung für dich, Rose. Du hattest vor Monaten etwas bestellt, und es war nie angekommen, du hattest auch nachgefragt, erinnerst du dich? Und heute Morgen war es dann da. Ich hatte es dann gleich in meinen Wagen gepackt und wollte dich auch anrufen, aber mein Akku hat den Geist aufgegeben, es tut mir leid.«

Rose bemerkte, wie verlegen Knut war, weil er wusste, wie sie auf unangekündigte Besuche oder Begegnungen reagierte.

»Ist schon okay, Knut. Toller Service, ich hatte es echt schon vergessen.«

Knut strahlte sie an und gab ihr das kleine Päckchen. »Brauchst du noch was? Hast du vielleicht Lust auf ein Eis?« Verschmitzt grinste er sie an.

»Eis zum Frühstück? Knut, du bist unmöglich.« Sie kicherte.

Wie schön wäre es, wenn er mit ihr flirten würde, aber er wollte bestimmt nur nett sein.

»Lass mich erst einmal richtig wach werden und du rufst mich nachher an, okay?«

»Gern, bis nachher.«

Rose schloss die Tür. Knut war ein feiner Kerl. Humorvoll, attraktiv, zuvorkommend. Und sie mochte ihn. Dummes Mädchen!, schimpfte sie sich. Was könnte ein Mann wie er mit einer wie dir im Sinn haben? Komm mal klar! Sie rollte in die Küche und machte am Küchentisch das Päckchen auf. Es war dieses kleine italienische Kochbuch.

Ein Eis mit Knut … die Idee gefiel ihr immer besser.

Aber erst einmal schauen, ob ihr Auftraggeber sich noch mal gemeldet hatte oder es sonst noch etwas zu tun gab. Wenn nicht, würde sie den Tag ruhig verbringen und über die vergangene Nacht nachdenken.

Sie fragte sich wieder, ob sie jetzt total überschnappte. Vielleicht sollte sie mehr unter Menschen gehen. Sie kicherte. Diese Überlegung war noch irrer, als zu denken, dass Knut etwas mit ihr anfangen wollen würde, oder dass sie im Traum mit ihrem alten Kuscheltier sprach, das gefangen gehalten wurde und sich ihre Hilfe erhoffte. Warum sollte sie also nicht von Knut träumen?

Gestern noch hatte sie es kaum abwarten können, ihn zu sehen.

5

Neil war spät dran. Die letzte Nacht hatte es wieder in sich gehabt. Welche der letzten Nächte eigentlich nicht? Aber er hatte es im Griff.

Post war nervig. Es waren sowieso nur Rechnungen und Werbung. So auch diesmal. Immerhin ein Flyer von einem neuen Thai-Restaurant. ›Thai Riffic‹. Lustiger Name. Dann die üblichen verdächtigen Werbebroschüren. Zwei Angebote für Sofortkredite. ›Pizza Maramizza‹ hatte argentinische Wochen.

Ein Umschlag fiel aus der Reihe. Er war von einer Firma namens ›Goldstein Productions‹. An seinen Namen. Nicht an die Bewohner dieses Hauses. Direkt an seinen Namen und seine Adresse. Tatsächlich eine interessante Abweichung in der langweiligen Routine. Er stopfte die Werbung in die Mülltonne und rannte zur Bushaltestelle. Er stieg in den nächsten Bus und öffnete den Brief.

Sehr geehrter Herr Krauli,

wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie der Auserwählte sind.

Na ja, wir wollen ja nicht lügen, einer der Auserwählten.

Wir, die Goldstein Productions, werden einen Film über einen Musiker drehen, über ein Live Konzert im Small Business. Mit allem, was dazugehört.

Und sie haben die einmalige Chance, der Star zu sein.

Was heißt das?

Nichts anderes, als was da steht.

Sie sind der Star unserer Produktion.

Es geht nur um Sie.

Wir filmen Sie live in einer Location, wo Sie vor Publikum auftreten und performen.

Vielleicht ein wenig Planung, ein bisschen Schweiß. Aber das wäre es auch.

Ungescriptet. Versprochen.

Es soll um Musik gehen. Um dieses Live-Gefühl.

Und Sie, lieber Herr Krauli, sind unser Kandidat. Zumindest wenn Sie wollen. Alles, was Sie tun müssen, ist das angehängte Formular auszufüllen und uns schnellstmöglich zurückzuschicken. Mehr nicht.

Ihre nächste Frage wird sein, was Sie davon haben. Die Antwort ist ganz einfach.

Wenn die Wahl auf Sie trifft, erschaffen wir ein musikalisches Kleinod mit Ihnen in der Hauptrolle.

Das wird Ihnen wahrscheinlich keinen Weltruhm einbringen, aber immerhin ein drei Stunden Live Video mit Ihnen in der Hauptrolle.

Wo Sie federführend für die Durchsetzung waren. Sie haben vollkommene künstlerische Freiheit, was die Auswahl Ihrer Songs und Texte angeht. Wenn Sie sich jetzt fragen, warum wir Sie gerade anschreiben, Sie wurden uns empfohlen.

Diesen Brief bekommt nur eine kleine Auswahl an Künstlern. Und Sie gehören dazu!

Sie brauchen sich keinerlei Gedanken darüber zu machen, dass wir nur Ihre Daten haben wollen. Weil die haben wir ja schon, sonst könnten wir Ihnen ja nicht schreiben.

Wir werden die Daten zu keinerlei anderem Zweck benutzen. Es geht wirklich einfach nur um Sie. Wenn Sie sich jetzt fragen, was Sie tun müssen, um an dieser Ausschreibung teilzunehmen, die Antwort ist leicht. Schreiben Sie uns einfach nur, ja ich will, und packen Sie diesen Brief in den von uns bereits frankierten Rückumschlag.

Mehr nicht. Wirklich.

Vielleicht sollten Sie sich ein paar Gedanken darüber machen, was Sie denn live auf der Bühne vortragen. Aber wir vermuten, dass ähnliche Gedanken jetzt gerade in Ihrem Gehirn gestalt annehmen.

Wenn dem nicht so wäre, hätten wir Sie nicht angeschrieben. Und was passiert dann?

Sie bekommen von uns schnellstmöglich ein Feedback und weitere Informationen, was aus Ihrer Bewerbung geworden ist.

Wir können Ihnen nicht genau sagen, ob es Wochen oder zwei Monate werden. Wir melden uns bei Ihnen. Wir würden uns sehr über Ihre positive Zusage freuen.

Mit den besten Grüßen

Goldstein Productions.‹

Was zur Hölle … so etwas bekam man normalerweise nur per E-Mail in einem gebrochenen Deutsch, das nicht mal Google so bescheiden übersetzt hätte. Neil dachte nach. Das klang so unverblümt, dass es vielleicht wirklich echt sein könnte. Wie geil wäre das denn bitte? Er, live auf einer Bühne mit der absoluten Kontrolle? Und alles, was er dafür tun müsste, wäre zu schreiben, dass er will? Wo war da der Haken? Er stellte fest, dass er automatisch schon ›Ja, ich will!‹ unter den Brief geschrieben und unterzeichnet hatte. Absolut verrückt! Aber er hatte jetzt keine Zeit mehr zu träumen. Johann erwartete ihn. Mal schauen, was der dazu sagte. Er sprang aus dem Bus und lief zügig durch den typischen Nieselregen zum Laden.

Neil schaffte es gerade noch rechtzeitig in den Laden. Es war zwar noch nicht ganz zehn Uhr, aber Johann hatte die Tür schon aufgeschlossen. Es wäre auch nicht schlimm, wenn er später gekommen wäre.

Johann war da inzwischen relativ entspannt, auch wenn das anfangs durchaus anders gewesen war.

»Moin Boss, was liegt an?«

»Busines as usual. Und bei dir?«

»Ach, eigentlich alles genauso abgefuckt wie immer. Aber ich hatte heute mal einen Brief der besonderen Art. Hier, kannst dir ja mal anschauen, während ich mir einen Kaffee hole.« Er gab Johann den Brief und schlenderte zu den Klängen von ›Come Alive‹ der Foo Fighters zur Kaffeemaschine. Er hängte seine alte Drillichjacke mit dem Kiss-Army-Patch ins Büro. Der nächste Song handelte von dem Mann, der die Welt verkaufte. Kurt Cobain war einfach geil gewesen. Und auch wenn er Cover-Versionen kritisch gegenüberstand, diese Version des Bowie-Klassikers hatte definitiv was.

Johann hatte also heute die Grunge-Schiene gewählt. Das musste absolut nichts heißen. Seine Playlisten waren noch wirrer als die Aussagen von Politikern. Aber eigentlich war es ihm auch scheißegal, in was für einer Stimmung er gerade war. Johanns Musikwahl war meistens im Einklang mit seinem Geschmack. Oder sie erweiterte seinen Horizont. Wie sagte Johann immer so schön? Man muss auch seine Feinde kennen. Auch wenn er manchmal etwas brauchte um dahinterzukommen.

Mit seinem Kaffee ging er wieder in den Laden und stellte ihn hinter den Tresen. Auf der Arbeitsfläche standen keine Kartons mit neu gekommener Ware. Das hieß, entweder hatte Johann schon alles abgearbeitet. Oder die Post war noch nicht da gewesen. Er schnappte sich einen Stapel mit CDs, die wegsortiert werden mussten, und machte sich zu den Klängen von ›Under the Bridge‹ ans Werk. Ein geiler Song, auch wenn sein geheimer Favorit aus diesem Album ›My Friends‹ war. Ganz knapp gefolgt von ›Aeroplane‹, eigentlich gleichauf.

Also ordnete er die CDs und fing dann an, das Sortiment zu sortieren. Er fragte sich, was so schwer daran sei, eine CD wieder dahin zu tun, wo man sie weggenommen hatte. Es war den Leuten augenscheinlich einfach scheißegal. In diesem Fall war Musik nicht ihr Flugzeug. Dusseliges Gesocks. Aber die letzten Tage war nicht so viel los gewesen. Oder die Menschen waren gnädiger gewesen.

Er kam schnell voran.

Das nächste Lied war ›Thinking about You‹ von Radiohead. Neil blickte zum Tresen. Johann stand an der Anlage und hatte wieder diesen verklärten Blick. Neil war gespannt, ob er jetzt den Rest des Tages live auflegen würde oder ob das nur eine Momentaufnahme war. Das war das Schöne an dem Job bei Johann. Es wurde nie langweilig und die Atmosphäre stimmte einfach. Es machte einfach Spaß.

Neil versuchte immer wieder, Johanns Grundstimmung zu verstehen. ›Vegetable‹, die Beach Boys. Absolut abgefahren. Musikalisch passte es so gar nicht. Bis auf die Tatsache, dass es einen gleichnamigen Song auf dem Album Pablo Honey gab. Die sperrig schöne Nummer wurde von ›Comfortably Numb‹ abgelöst. Es versprach ein interessanter und lehrreicher Tag zu werden.

Eine schrammelige Gitarre, gefolgt von dem Schlagzeug und dann kam dieser geile Bass. Neil liebte den Anfang von ›Bring on the Night‹. Johann hatte die Anlage voll aufgedreht. The Police als Rauswerfer? Wenn sie Pech hatten, lockte das noch Leute an, wirkliche Kunden waren heute wenig da gewesen.

»So ein simpler Basslauf und so megamächtig, was für ein geiler Song. Und erst mal der Bass.«

»Ja. Es braucht nicht viel.«

»Ne.«

»Das war meine erste Platte.«

»Echt?«

Johann nickte.

»Warum gerade die?«

»Fortuna oder so was.«

»Wie jetzt?«

»Na ja, ich war mit meiner Mutter zum Essen eingeladen bei der Frau von ihrem Onkel und ihrer Freundin. Es gab Artischocken«.

»Wann war das denn?«

»1985 würd ich sagen«.

»Aber kam die Platte nicht schon früher raus, gegen Ende der 70er? Dass du das noch weißt.«

»Natürlich. Die beiden hatten sich die ›Reggatta de Blanc‹ gerade erst gekauft und aufgelegt.«

»Und dann?«

»Na ja, ich soll angeblich gefordert haben, die Platte immer wieder zu spielen.

Die saßen da rum und haben getrunken und ich saß da und hörte nur der Musik zu. Irgendwann habe ich angefangen zu tanzen.«

»Und dann?«

»Sie haben mir die Platte geschenkt.«

»Das klingt immer so spannend, was ihr erzählt. Aber ich schnalle es nicht«, sagte ein ungefähr elfjähriger Junge, der ab und an reinkam, um sich ›Oldschool Hip-Hop‹ anzuhören, um seinen Horizont zu erweitern. Sie hatten ihn schlichtweg übersehen. Er wollte Youtuber werden, natürlich, wie alle Kids, die keine E-Sport-Stars-Karrieren anstrebten. Für ein Kind seines Alters war er recht nett und pflegeleicht und kaufte ab und an mal etwas. Außerdem achtete er auf die Ordnung in der Ablage. Er brachte die Scheiben, die er hörte, selbst zurück und sortierte sie wieder richtig weg. Das war höchst selten und musste hoch angerechnet werden.

Neil und Johann sahen sich an und lachten.

»So, Feierabend. Komm morgen wieder. Dann klären wir dich auf.«

6

Ein wenig Onlinebanking, ein paar Mails, zwangloses Surfen und Dahintreiben in den weiten Wellen des Netzes. Es gab keine Änderungswünsche und keine neuen Aufträge, sie hätte sich eh nicht konzentrieren können. Erleichtert fuhr Rose ihren Rechner runter.

Immer wieder waren ihre Gedanken zu dem Traum der letzten Nacht abgedriftet. Wann hatte sie wieder angefangen zu träumen? Oder hatte sie nie aufgehört, nur jetzt konnte sie sich wieder daran erinnern? Sie hasste es, wenn unvorhergesehene Dinge passierten. So etwas ließ sich nicht kontrollieren. Und das bisschen, das in ihrem Leben passierte und was sie noch beeinflussen und kontrollieren konnte, wollte sie auch beibehalten. Es gab ihr Sicherheit. Also machte sie sich frisch und zog sich um.

Sie stöberte in ihrem neuen Kochbuch nach ein paar leckeren Rezeptideen und schrieb Knut über die App von ›WBDL‹ mit der Einkaufsliste eine Nachricht, dass sie jetzt nichts weiter vorhätte und große Lust auf ein Eis hätte. Sie überprüfte, ob sie noch genug Bargeld hatte, weil sie Knut einladen wollte.

Das widersprach zwar ihrem Kundenbonus, aber da musste er durch. Und wenn er sich weigerte, dann halt einen Kaffee.

Sie hatte schon früher mal überlegt, ihn zum Essen einzuladen, es aber immer als absurde Idee verworfen. Sie hatte zu große Angst vor einer Absage oder einer blöden Ausrede. Aber vielleicht ja die nächsten Tage, mit einem der neuen Rezepte aus dem neuen Kochbuch? Erst einmal abwarten, wie das Eis-Essen wird.

Und wenn man an den Teufel denkt, dann schreibt er dir auch schon eine Nachricht.

Knut bestätigte die Bestellung und schrieb, dass sie seine letzte Tour sei und er in etwa zwei Stunden bei ihr wäre.

Die Zeit überbrückte sie mit dem Ausräumen des Geschirrspülers, etwas Staubsaugen und noch ein paar Seiten lesen. Sie hatte kaum ein paar Seiten in ihrer geliebten ›Momo‹-Ausgabe gelesen, da war Knut auch schon da und half ihr, die Einkäufe zu verräumen.

Er fuhr mit ihr zu einer kleinen Eisdiele am Stadtrand, die täglich frisch zubereitetes Eis hatte und auch gern mal mit neuen Geschmacksrichtungen experimentierte.

»Immer noch kein Knoblauch-Nuss«, meinte Knut enttäuscht, als er die neuen Sorten durchgelesen hatte. Er entschied sich dann für einen Ingwer-Orangen-Chili-Becher mit Sahne und geriebenem Wasabi und Haselnüssen. Rose bestellte einen großen Becher Spaghetti-Eis und Kaffee.

»Das würdest du essen?«, fragte sie ungläubig.

»Warum denn nicht? Ich habe es ja auch schon mal vorgeschlagen, aber sie waren auch skeptisch.«

»Und das wundert dich wirklich?«

»Es gibt doch auch Basilikum-Zitrone, Vanille-Bratapfel, Wasabi, Schnittlauch und Senf …«

»Wo hast du das denn gegessen?«

»In Frankreich. Da haben die auch Blauschimmelkäse, Zwiebelgeschmack, Gänseleber …«

»Dabei gelten die Franzosen doch als so kultiviert.«

»Eben. Drum. Wenn du wüsstest, was es auf der Welt noch alles für verrückte Eissorten gibt.«

Rose nahm noch einen Löffel von ihrem Spaghetti-Eis.

»Du wirst es mir sicher nach und nach erzählen, das langt mir erst mal.«

Die Zeit verging wie im Flug und Rose stellte fest, dass Oktopus-Eis keiner der Gründe für sie sei, nach Japan zu fliegen.

Es war toll, einfach mal nur zu blödeln und zu lachen.

Knut bestand allerdings darauf, die vertilgten Eisbecher zu zahlen. Er müsse sich ja an die Geschäftsvereinbarungen seiner Firma halten, verkündete er grinsend.

Aber den Kaffee durfte Rose übernehmen.

Als sie wieder in ihrer Wohnung war, zog sie sich bequemere Sachen an. Jogginghose und T-Shirt. Der BH landete auf dem Schlafzimmerstuhl. Endlich zwangloses Durchatmen.

Sie hatte Knut natürlich nicht gefragt, ob er mal zum Essen kommen würde. Sie hatte sich schlicht und einfach nicht getraut.

Vielleicht müsste sie sich wirklich mal Mut antrinken und ihm eine Einladung schreiben. Und dann? Was würde sie machen, wenn er zusagte? Und viel schlimmer, falls er absagte? Vielleicht sollten einige Sachen lieber in der Fantasie stattfinden und nie im wahren Leben ausgesprochen werden.

Sie schob den Gedanken an Knut zur Seite und kochte Wasser auf. Ein schöner Chai, mit einer Spur Pfeffer und Zimt, und mit Milchschaum und ein paar Seiten in ›Momo‹ weiterlesen vorm Zubettgehen.

Noch war sie zu aufgekratzt, um sofort zu schlafen.

7

Rose erwachte wieder auf ihrer Wiese. Alles hier kam ihr schmerzhaft vertraut vor. Der Ort ihrer unbesorgten Kindheit. Ihr Rückzugsort. Der Ort, an dem viele Abenteuer mit Rapy begonnen hatten. An dem sie getanzt und getobt hatten. An dem sie am Ende eines Abenteuers erschöpft zusammengekuschelt zwischen den Gänseblümchen gelegen hatten, um wieder zu Luft zu kommen. Hier war alles möglich gewesen, war es vermutlich immer noch.

Sie schüttelte die sehnsüchtigen Gedanken ab und stand auf. Sie hatte eine Mission ¬– und keine Ahnung, wie sie die erfüllen sollte.

Sie lauschte, ob sie Rapys Stimme hören konnte. Aber da war nichts, außer Bienengesumm.

»Rapy?«, fragte sie zaghaft. Sie kam sich ziemlich albern vor, aber was blieb ihr übrig? Immerhin hörte sie niemand außer den Bienen. Da sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand und wohin sie der eine oder der andere Weg führen würde, entschied sie, dass eine Richtung so gut wie die andere war. Also lief sie einfach drauflos. Die Wiese war wirklich riesig, sie erstreckte sich bis zum Horizont. Sie war voller Blumen, vereinzelten Bäumen und das Gras duftete herrlich.

Nach einer Weile hörte sie einen Vogel in einem Baum zwitschern. Sie blieb stehen und schaute in die Krone der Rotbuche. Den Vogel konnte sie nicht entdecken. Sie hörte ihn nur.

Und was jetzt? Sie konnte doch nicht einfach in den Baum rufen. Ob der Vogel wüsste, wo sie Raben oder Schattenschwinge finden könnte. Sie wusste ja nicht einmal, wer genau dieser Schattenschwinge überhaupt war. Aber was sollte sie sonst tun?

Sie setzte sich auf den grasbewachsenen Boden und lehnte sich an den breiten Stamm der Buche. Mit ihren nackten Zehen zupfte sie längere Grashalme und bohrte sie dann in den Boden.

»Hallo, kleiner Vogel, das ist ein schönes Lied. Ich will dich auch nicht stören, viel lieber höre ich dir zu. Aber weißt du, Rapy bat mich, Schattenschwinge zu finden. Sie ist eine Katze und mein Freund. Ich soll Vögel fragen oder Raben. Du kannst mir nicht zufällig helfen?«

Wenn sie ein Vogel wäre, hätte sie bei der Erwähnung von Raben und Katzen Reißaus genommen.

Der Wind rauschte durch die Blätter der Buche und umspielte ihr Haar. Der Vogel schwieg. So saß Rose noch eine Weile einfach nur an den alten Baum gelehnt und genoss die leichte Brise.

»Tititi«, hörte sie von oben aus dem Baum.

Sie blickte hoch, konnte aber durch die dicht belaubten Äste nichts erkennen. Dann hörte sie ein Rascheln und sah einen Vogel davonfliegen. Sie schaute dem kleinen Vogel nach, der Kurs auf die Sonne nahm.

Und nun? Was sollte sie mit ›Tititi‹ anfangen? Aber was hatte sie erwartet? Dass der Vogel ihr Rede und Antwort stünde? Das wäre ja noch verrückter gewesen. Aber hätte es sie überrascht? Wahrscheinlich nicht mehr so sehr.

Vielleicht war ›Tititi‹ ja die Aufforderung gewesen, ihm zu folgen. Also stand sie auf und ging dem Vogel nach. Der Vogel kreiste ein paar Schritte vor ihr in der Luft. Er schien tatsächlich auf sie zu warten.

Die Wiese schien unendlich groß zu sein. Überall wuchsen Wildblumen und es gab ein paar vereinzelte Obstbäume.

Der Vogel flog weit vor ihr durch die Luft. Immer wenn sie dachte, sie hätte ihn verloren, tauchte er wieder auf, mal wild flatternd, mal gemächlich auf einer Strömung des leichten Windes gleitend, mal auf dem Boden vor ihr her hüpfend.

Sie lief weiter durch das Gras. Sie genoss das Kitzeln vom Gras an den nackten Füßen. Ein aufgeschrecktes Kaninchen huschte panisch davon. Immerhin war es nicht weiß und trug keine Taschenuhr. Aber das hätte sie auch nicht gewundert.

Am Horizont sah sie Baumspitzen. Ihr kleiner Navigator flog auf einen großen Mischwald zu. Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Hier war alles zeitlos. Vielleicht verging die Zeit hier langsamer, oder die Tage waren länger. Die Sonne ging hinter dem Wald langsam unter und verlieh allem ein rötliches Schimmern.

Als sie den Waldrand erreicht hatte, saß der kleine Vogel auf einem Ast gerade außer Greifweite. Als wenn sie dem Kleinen etwas getan hätte! Ein gut ausgetretener Trampelpfad führte in den Wald hinein. Er war dicht bewachsen, wirkte aber weder dunkel noch bedrohlich. Vor dem Baum am Rande des Pfads hielt sie an und betrachtete den Vogel. Er hatte rosabraunes Brustgefieder und graue Flügel und einen blaugrauen Kopf. Der kleine Vogel schaute sie an und drehte den Kopf zum Pfad, gerade so, als wolle er ihr sagen, dass sie den Pfad beschreiten solle.

»Hier soll ich rein? Ist das der Weg, dem ich folgen soll, kleiner Freund? Hilfst du mir auch in dem Wald weiter?«

Der Vogel legte den Kopf schief und schaute sie an. Er öffnete den Schnabel, vielleicht um ihr zu antworten, aber aus dem Wald erklangen die kehligen Schreie von Rabenvögeln. Ihr kleiner Wegbegleiter schreckte auf und flog mit aufgeregten Rufen davon.

»Danke kleiner Freund«, rief sie ihm hinterher und kam sich schon nicht mehr so albern vor.

Zielstrebig ging sie in den Wald hinein. Und hörte erst mal nichts. Die Geräusche der Wiesenlandschaft, die sie noch vor fünf Metern wahrgenommen hatte, wurden von den dichten Bäumen verschluckt.

Die Luft war klar, aber wärmer und zirkulierte nicht mehr so frei wie auf der Wiese. Das Licht fiel gedämpft durch die Wipfel der Bäume, wie von Jalousien gefiltert. Sie blieb stehen und schaute sich um. Ein schöner Wald, die Bäume sahen gesund aus und standen maximal drei bis fünf Meter auseinander. Der Pfad, auf dem sie stand, war breit und oft benutzt worden, aber nur von ein wenig Reisig und ein paar Blättern bedeckt.

Als ihre Sinne sich an die neue Umgebung gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass der Wald nicht alle Geräusche schluckte. Er hatte seine ganz eigenen. Der Wald war leiser, mal hörte sie ein Rascheln und einmal dachte sie, einen Specht zu hören, als sie weiter dem Weg in den Wald folgte. Nur die Raben hörte sie nicht mehr. Sie hielt die Augen offen nach Vögeln oder zumindest einem Eichhörnchen, aber ihr lief kein Lebewesen über den Weg. Diese Stille kam ihr seltsam vor, nicht beängstigend, aber unangenehm. Wie diese unbehaglichen Pausen in einer Unterhaltung, wenn beide nicht wissen, was sie sagen sollen. So lief sie weiter den Pfad entlang, und je weiter sie kam, desto dichter und dunkler wurde der Wald und die Luft wurde wärmer und drückender.

Und jetzt? Was mache ich jetzt?

Ich kann doch nicht die ganze Nacht hier durch den Wald laufen. Erst eine endlose Wiese und jetzt ein Wald? Was kommt als Nächstes? Sie hatte ja nicht mal die Chance, ein Tier zu fragen, da sie keins sah. Und trotzdem hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie war nicht alleine in dem Wald. Aber das wäre auch schwer vorstellbar gewesen.

Es beunruhigte sie nicht, zumindest nicht sehr. Sie setzte sich am Wegrand auf einen umgestürzten Baumstamm und überdachte ihre nächsten Schritte. Sie konnte wahrscheinlich noch ewig durch den Wald laufen, ohne dass sie etwas erreichte. Also stand sie auf und redete mit dem Wald. Anfangs kam es ihr unglaublich töricht vor, so einfach ins Nichts zu sprechen, aber die Alternativen hatte sie?

»Hallo, ich bin Rose. Ich bin eine Freundin von Rapy. Sie sagte mir, dass ich einen Raben finden soll. Einen ganz bestimmten. Er heißt Schattenschwinge. Immerhin hat mich ein kleiner Vogel bis zu diesem Wald gebracht. Sind hier Raben? Ich habe doch ein Krächzen gehört. Ich will niemandem etwas Böses. Ich will bloß den Raben Schattenschwinge treffen. Rapy sagte, dass er mir vielleicht helfen kann. Hatte ich erwähnt, das Rapy eine Katze ist? Vielleicht kannst du mir helfen? Schattenschwinge?«

Als sie geendet hatte, schaute sie sich erneut im Wald um, aber da war nichts. Nichts hatte sich verändert.

Natürlich nicht.

Der Mond schien und tauchte den stillen Wald sanft in sein Licht. Vielleicht bekam sie jetzt wirklich Wahnvorstellungen. Aber vielleicht war es ja auch ganz tröstlich, nur im Traum so richtig verrückt zu sein und im wachen Dasein nur als verschroben und menschenfeindlich angesehen zu werden.

Vielleicht sollte sie den Weg einfach wieder zurückgehen und sich auf die Wiese legen, bis sie einschlief und dann wieder in ihrem Bett aufwachte.

Gerade als sie sich umdrehen und gehen wollte, raschelte es auf dem Weg. Sie hörte ein Krächzen und sah einen schwarzen Schemen am Rande ihres Blickfelds auf dem Weg tiefer in den Wald hineinhüpfen.

Erleichtert machte sie sich an die Verfolgung. Sie hatte zwar keinerlei Vorstellung davon, was sie noch tiefer im Wald erwarten würde, aber immerhin schien jemand oder etwas sie gehört zu haben. Hauptsache, es würde nicht wieder so eine endlose Verfolgungsjagd werden wie mit dem kleinen Piepmatz.

Aber schon im nächsten Moment wurde sie von einem Krächzen aus ihren Gedanken gerissen. Der Weg führte auf eine kleine Lichtung. Sie stand vor einer riesigen, alten, knorrigen Eiche, auf deren Ästen es vor Raben nur so wimmelte; alle starrten sie an.

»Was willst du hier, Menschenkind?«, hörte sie die gekrächzte Frage.

»Hallo.«

An die hundert oder mehr. Weiter am Rand bemerkte sie Krähen und Dohlen. Eine Art Tribunal. Sie setzte noch mal an. Es kam ihr nicht seltsam vor, dass Raben sprechen konnten, da sie ja schon mit ihrem alten Kuscheltier gesprochen hatte.

»Hallo, mein Name ist Rose und…«

»Was willst du hier, Menschenkind?«

»Ich suche Schattenschwinge oder jemanden, der mich zu ihm führen kann«, sagte sie bestimmt.

Sie hatte den Eindruck, dass etwas Unruhe in das Tribunal kam. War sie zu forsch aufgetreten? Sie hatte doch nur genauso geantwortet, wie gefragt wurde. War sie zu schroff gewesen, weil der Rabe sie Kind genannt hatte? Jetzt spürte sie förmlich, dass alle Raben und Krähen in den Bäumen sie fixierten. Die Augen waren nicht alle schwarz – und rot schon gar nicht. Bei einem Raben auf den unteren Ästen war sie sich sicher, dass er blaue Augen hatte.

»Warum?«

Sie war sich sicher, dass es der Rabe in der Mitte der alten Eiche war. Er wirkte nicht größer oder schöner, aber er hatte mehr Platz auf dem Ast. Es waren nur je drei Raben rechts und links von ihm, mit gebührendem Abstand.

»Ich brauche seine Hilfe, für eine Freundin in Not.«

Langsam wurde sie sauer. Sie hatte doch schon wie eine Verrückte in den Wald hineingerufen, was sie wollte. Was sollte dieses alberne Verhör? Mit einem Mut, den sie sich selbst nicht zugetraut hätte, trat sie einen Schritt auf die Eiche zu und zeigte auf den vermeintlichen Anführer.

»Hast du hier das Sagen? Kennst du Schattenschwinge? Oder bist du Schattenschwinge? Ich brauche die Hilfe für Rapy, meine Freundin. Sie sagte, nur er könne ihr helfen.«

Die Raben um den vermeintlichen Anführer schreckten leicht auf und wirkten nun angespannter. Der Rabe, auf den sie gezeigt hatte, legte den Kopf leicht schief und musterte sie eindringlich, er hatte definitiv schwarze Augen. Er richtete sich auf und blieb mit hochgerecktem Kopf stehen. Und machte ein Geräusch, das man vielleicht als Lachen deuten konnte. Die anderen Raben verharrten wachsam.

»Mut hast du ja, Menschenkind. Jetzt geh deiner Wege und träum weiter.« Er zuckte kurz mit den Flügeln und alle Raben stoben mit lautem Gekrächze aus den Bäumen und schossen nach links und rechts auf sie zu und dann direkt in den Himmel. Sie stolperte erschrocken zurück. Der Himmel war schwarz vor Raben, aber keiner streifte sie. Es mussten unglaublich viele Raben gewesen sein, da das Gezeter und Geschrei geradezu infernalisch anschwoll und auch der Himmel immer noch voller Bewegung war.

Nur der vermeintliche Anführer hockte noch auf seinem Platz und musterte sie.

»Was soll das?«, schrie sie ihn an. »Warum wollt ihr mir nicht helfen? Warum wollt ihr Rapy nicht helfen?«

Der Himmel wurde langsam wieder sichtbar und das Krächzen der Raben leiser und leiser. Tränen rannen ihr Gesicht herunter. War alles umsonst gewesen? Der Rabe stieß sich vom Baum ab und segelte an ihr vorbei.

»Weil wir keine Rapy kennen. Menschenkind. Träum weiter,« krächzte er sie im Vorbeifliegen an.

Oder wurde sie doch verrückt?

»Blöder aufgeplusterter Federball«, schrie sie dem Raben nach, der sich elegant in die Höhe schraubte. Sie sackte kraftlos auf den Boden und fing hemmungslos an zu weinen. Sie hörte ein wütendes Kreischen und das Schlagen von Flügeln. Der Rabe hatte kehrtgemacht und stürzte auf sie zu. Sie schreckte zurück, als der Rabe mit ausgebreiteten Flügeln auf sie zuglitt und dann vor ihr landete.

»Was hast du da gerade gesagt?«

Sie konnte den Zorn in seiner Stimme förmlich spüren. Seine Federn zitterten und er war aufgeplustert. Seine Flügel hatte er immer noch bedrohlich abgespreizt.

Rose schluckte.

»Ist doch egal, du blöder aufgeplusterter Federball, ja das bist du. Rapy hatte recht«, schniefte sie trotzig. »Wie konnte sie nur meinen, so was zu vertrauen.«

Der Rabe schüttelte sich, nahm seine Flügel runter und legte den Kopf wieder schief.

»Es gibt nur ein Lebewesen, das sich jemals erdreistete, mich so zu nennen. Das Katzenvieh. Sollte das etwa die Freundin sein, von der du sprichst?«

Seine Stimme klang jetzt nicht mehr zornig, wohl aber fordernd.

»Ja, Rapy ist eine Katze. Aber wieso kennst du ihren Namen nicht?«

»Dieses lästige, selbstverliebte Fellknäuel mit einem Gottkomplex hat mehr Namen als Leben. Deshalb. Bei Odins Eiern, ich hatte gehofft, ich wäre sie losgeworden. Was genau hat sie dir erzählt?«

Sie erzählte ihm genau all das, was die Katze ihr gesagt hatte, und sie betonte auch noch mal extra, dass sie ihm in diesem Fall trauen würde und dass sie das augenscheinlich selbst nicht für möglich gehalten hätte. Der Rabe wiegte seinen Kopf hin und her. Als Rose geendet hatte, nickte er.

»Das kann doch alles nicht möglich sein«, krächzte er.

Rose schaute ihn ungläubig an. »Was denn, glaubst du mir immer noch nicht?«

»Das meine ich nicht«, schnarrte er.

»Ich hatte gehofft, dass sie mich in Ruhe lassen würde. Ich hatte jahrelang meinen Frieden und mein Leben war schön. Und jetzt das.«

»Du magst sie nicht besonders, oder?«

»Würdest du jemanden mögen, der ständig an dir herummäkelt und versucht, dir seine Weltansicht und Moralvorstellungen als die einzig richtigen unterzujubeln? Aber das ist jetzt erst mal egal. Wenn der nervige Flohsack sich so weit herablässt, mich um Hilfe zu bitten, dann muss ich ja wohl dem Wunsch einer Göttin folgeleisten, oder? Ich werde Erkundigungen einziehen und dir dann morgen davon berichten.«

»Warum morgen?«

»Weil du jetzt aufwachst Rose, darum.«

»Woher willst du wissen …«

8

Neil hatte schlecht geschlafen. Mal wieder. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal gut geschlafen hatte. Und wenn er es wusste, so wollte er sich nicht daran erinnern. Immerhin hatte es nichts mit Drogen oder Alkohol zu tun. Es war egal, wie viel er soff oder ob er nichts trank. Es waren immer dieselben Träume, die ihn verfolgten und schweißgebadet und zitternd aufwachen ließen.

Also trank er meistens abends.

Tagsüber nicht mehr. Das hatte er Johann versprochen. Und auch abends nie so viel, dass er es nicht zur Arbeit schaffen würde oder dort zumindest nicht total durchhing. Das war zwar ein langer Weg gewesen, aber er hatte es dank Johann geschafft. Er hatte sich mal eines Nachts gefragt, was passiert wäre, wenn sich Johann nicht so rührend seiner angenommen hätte. Er hatte es schnell wieder gelassen.

Er schaltete seine Gaggia ein und ging duschen. Nach einem Blick in dem Spiegel entschied er, dass der Dreitagebart ihn wild und verwegen aussehen ließ. Genau richtig.

Zu den Klängen von ›Hey, Hey, My, My, schlug er sich drei Eier in die Pfanne und machte sich einen doppelten Espresso. Frisches Brot wäre toll gewesen. Auf Sauerteig hätte er Lust gehabt. Aber sein Brot war auf der Evolutionsleiter so weit aufgestiegen, dass es wahrscheinlich Diskussionsrunden im Late-Nite-Talk hätte leiten können.

Das konnte er nicht zulassen. Also weg mit dem Brot. Ein Low-Carb-Frühstück. Der Apfel sah noch gut genug aus für ein zweites Frühstück auf dem Weg zu Johann.

Also rein in die Jeans, frisches T-Shirt an, Lederjacke schnappen, Stöpsel in die Ohren und los.

Sie tranken gemütlich einen Kaffee, bevor sie den Laden aufmachten, und Johann schlug vor weiterzuspielen. Er sei dran mit der Vorgabe.

Das versprach ein lustiger Tag zu werden. Johann hatte damals das Spiel eingeführt, um Neil ein besseres musikalisches Basiswissen zu verpassen. So zumindest hatte er das immer ausgedrückt. Außerdem lernte er so die Ablage besser kennen, und Ordnung zu halten. Das Spiel an sich war absolut simpel. Johann – manchmal auch Neil – gab einen Song vor. Nun hatte man genau dessen Spielzeit über Zeit, einen passenden Song zu finden, der dasselbe Wort im Titel enthielt wie das Stück, das gerade lief. Man musste den Song finden, holen und auflegen. Und dann natürlich auch die Scheibe des Gegners wieder einpacken und richtig wegsortieren. Vinyl brachte vier Punkte, CDs zwei.

Er musste nicht nur viel lernen und wissen, wo was zu finden war: Wenn eine Scheibe mal ausverkauft war, musste man schnell umdenken. Lief der Song aus, bekam man Punktabzug. Wenn dann auch noch Kunden im Laden waren, die bedient werden wollten, war das teilweise sehr anspruchsvoll.

Johann eröffnete ihre Tagesbattle mit Sheena Eastons Bond-Song ›For your Eyes Only‹. Die Nummer war nicht lang, aber ein schöner Klassiker. Neil flitzte los. Metal S, Steel Panther – Feel the Steel, ›Eyes of a Panther‹. Es hätte ihn auch gewundert, wenn die LP verkauft worden wäre. Er hatte noch knapp eine Minute Spielzeit. Er legte die Platte auf den zweiten Plattenspieler und wartete ab. Dann blendete er gekonnt über, packte die Platte von Johann wieder ein und stellte sie zu den Film-Soundtracks zurück.

»Hätte ja mit Billy Idol gerechnet«, rief Johann zu ihm rüber.

»War zu einfach. Kommst du jetzt etwa mit der Kim-Carnes-Schnulze?« Sich gegenseitig zu provozieren und zu verunsichern, gehörte dazu. Johann war zwar immer noch meistens ungeschlagen, aber es gab auch Partien, die Neil gewann. Und wenn er verlor, dann nicht mehr zu null oder mit einem Minuspunktestand wie in den ersten sechs Wochen.

Johann hatte augenscheinlich genau das vorgehabt, aber er machte drei schnelle Schritte und kam mit den Guano Apes zurück. ›Open your Eyes‹, das passte auch besser als Übergang von Steel Panther.

Theoretisch könnte man auch auf ein anderes Wort des Songs wechseln. Zu ›Open‹ fiel Neil auch einiges ein. Aber das Augenthema war ja noch durchaus gut spielbar. Jetzt zog er ›Eyes Without a Face‹ raus. Er mochte die Nummer.

Johann konterte mit ›In your Eyes‹. Toller Song und Neil hatte jede Menge Zeit zu überlegen. Wenn man die Offensichtlichen zu schnell spielte, ging einem schneller die Luft aus. Dann lachte er.

»Wenn wir schon bei Ex-Genesis-Mitgliedern sind.«

Er schlenderte wieder zu den Filmmusiken und zog den Brother-Bear-Soundtrack ›Look through my Eyes‹ raus. Johann sortierte nebenbei auch noch Neuheiten weg. Als er Neils Auswahl sah, schlug er sich mit der rechten Faust auf die Brust.

»Respekt.«

Neil grinste, aber der Anfang von Johanns nächstem Song stürzte ihn tiefe Verzweiflung. Was zur Hölle war das? Dann erkannte er aber wieder die Stimme von Billy Joel. Den Song kannte er zwar nicht, der gute Mann hatte ja auch eine Menge auf dem Kerbholz gehabt. Er konterte mit Phil Campbell feat. Joe Satriani ›Tears from a Glass Eye‹. Wenn er nicht Gitarrist wäre, hätte er die Nummer nicht gekannt.

Aber Satriani war einfach Satriani.

Dann kam tatsächlich mal ein Kunde in den Laden, aber niemand rechnet mit der ›spanischen Inquisition‹. Allerdings wollte der keinerlei Hilfe, sondern sich einfach nur umschauen, wie er vehement äußerte.

Johann wählte ›Eye of the Tiger‹. Nachdem die beiden schattenboxend durch den Laden gesteppt waren – was dem stöbernden Kunden ein Kopfschütteln entlockte –, fiel Neils Auswahl auf ›Eye in the Sky‹. Auch das bescherte ihm einen anerkennenden Blick von Johann.

Immerhin war es im echten Leben nicht so fürchterlich wie in seinen Träumen. Immerhin etwas, eigentlich sogar noch fast besser, oder? Johann legte ›Whites of their Eyes‹ von New Model Army auf. Eigentlich wollte er die als Nächstes spielen, also musste er umdenken. Er schnappte sich The Who – ›Behind Blue Eyes‹. War eh schon überfällig.

Mitten im Song meldete sich der Kunde zu Wort, dass so eine lasche Cover-Version ja eine Frechheit sei und ein Schlag ins Gesicht der Künstler. Wäre er Limp Bizkit, wäre er ja so was von dagegen vorgegangen. Schlaffischeiße!

Neil und Johann verdrehten die Augen, lächelten den Kunden an und nickten. Wie gut, dass der keine Gedanken lesen konnte.

Johann raste zur Metal-Ecke, zog eine Platte raus und ging damit hinter die Theke. Noch bevor der Song ausklingen konnte, blendete Johann kunstgerecht über. ›Planet Caravan‹ von Black Sabbath. »Noch so ein Laschi-Cover. Aber es verkauft sich halt. Ich geh was zum Essen bei ›Pita Pan‹ holen, willst du auch was, Neil?«

»Einmal mit allem. Die Extended Version bitte. Und ich nehme deine Kapitulation mit Freuden an«, sagte er und feixte.

Johann verließ den Laden, bevor er mit dem Kunden auch nur ein weiteres Wort wechseln musste. Solche Idioten waren nicht gut für seinen Blutdruck, sagte er immer.

»Oh, das klingt ja auch interessant, von wem ist denn das Original? Kann ich das auch mal hören?«

Neil dachte nur ›Gotcha‹ und holte die CD für den Kunden. Der schaute sich auch das Cover von Black Sabbath an, verglich augenscheinlich aber nicht mal die Release-Daten.

»Pantera – ›Far beyond Driven‹. Ein geradezu geniales Album. So vielseitig und voller Emotionen. Ein Muss in jeder Sammlung.«

Dieses Sakrileg einer Cover-Version war noch das Beste an dem Album. Das Album war gut, aber es verursachte Neil einfach nur Kopfschmerzen. Wie passend bei dem Cover. Also pinselte Neil ihn ein wenig mit Honig ein und stimmte ihm einfach zu, was heilige Kühe anging. Der würde eine Kuh ja nicht mal erkennen, wenn sie ihm auf dem Fuß stünde. Immerhin kaufte der Typ brav Pantera und auch das Album vom Limp Bizkit, weil … das hätte man ihm ja mal geklaut.

Genau.

Neil rammte ›Ashes to Ashes‹ in den CD-Player.

Es war ihm klar, dass der Kerl das dann auch gleich total begeistert kaufen würde. Umsatz ist Umsatz. Also spielte er danach mal ›Opeth – To bid you Farewell‹.

Und siehe da, der Nappel biss an.

Der Kunde hat immer recht. Und einige brauchten halt betreutes Einkaufen.

Er kassierte den Kunden ab und schenkte ihm einen Jutebeutel mit dem ›Wear this proud and hear it loud‹-Slogan.

Johann hatte es wohl sicherheitshalber vorgezogen, gleich bei ›Pita Pan‹ vor Ort zu essen.

Die übliche Bande Kids kam, wie fast jeden Tag, auf dem Heimweg von der Schule vorbei. Die Blagen würden zwar nichts kaufen, aber immerhin hatten sie die Jungs so weit erzogen, dass sie freundlich grüßten, wenn sie den Laden betraten, nicht mehr wie irre schreiend durch den Laden rannten und erst recht keine Unordnung in das Sortiment brachten.